Difference between revisions of "Die Kunst in Bildern zu denken"

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Vorüberlegungen aus dem Nachhinein

BITTE UMBLÄTTERN.

Diese Arbeit gehört nicht zu jenen Büchern. die den Leser dazu verleiten wollen, mit der ersten Seite zu beginnen. Dem widersprechen die Gesamtkonstruktion sowie der Aufbau der einzelnen Abteilungen. Vielmehr wird man herumblättern und nach interessanten Stellen suchen, wird sich dann weiterarbeiten, vorwärts und rückwärts, vielleicht auch einfach neu einsteigen an anderer Stelle, mit anderen Aussichten. Und das ist gut so. Der nachgeborene Textvorspann taugt kaum als Einstieg. Leser, die sich mit Bildern nicht auf Anhieb anfreunden können, mögen's mit dem Lesen versuchen, immer brav der Zeile nach, seitenlang.


HABEN SIE SCHON MAL EIN BILD ÜBERSETZT?

Der Umgang mit dem Naheliegenden hat sich im Verlauf eines Prozesses entwickelt, in den sich die vielköpfige
 Arbeitsgruppe zunehmend verstrickt sah: Sie wollte sich eigent-lich nur mit dem 
Fernliegenden, der Kunst nämlich, beschäftigen. Das mangelnde Ver-trauen jedoch 
in die tradierte Praxis der Vermittlung und Auslegung von Kunst sowie der Vorsatz,
vereint verstehen und aussagen zu wollen, führte in unwegsames, wenig beackertes,
 kaum kultiviertes Gelände, abseits vorn schnurgeraden Weg der Wortspra-che. 
Dabei mussten wir uns klar machen, dass unserem Versuch zwei Merkmale, die die
 Sprache der Worte so bedeutsam werden ließen, weitgehend entzogen bleiben
 würden: äußerste Abstraktionskraft und hohes Ordnungsvermögen.

Im ersten Fall ist 
die Fähigkeit der Wortsprache gemeint, unendlich viele Einzelteile aus der Welt der
 Dinge mit einem einzigen Wort in die Welt der Sprache zu überführen, im zweiten die
 Fähigkeit, jeden noch so verwickelten Zusammenhang folgerichtig zerlegen zu
 können. Über Jahrhunderte und Kontinente hinweg, wie am Schnürchen. 
Jedoch: Mit dem, was sie einmal war, nämlich ein ganz besonderes und unverwechselbares Hier und Jetzt, hat sie kaum etwas gemein. Ein Wort ist ein Wort - und 
kein Stuhl, ein Satz ist ein Satz - und kein Mann, der auf ei-nem Stuhl sitzt. 
 Die Sprache der Worte ist unentbehrlich geworden, sie bringt uns die krause Wirklich-keit auf den Begriff. In diesem Buch nun wird versucht, sie aufs Bild zu bringen.



Vielleicht bleibt sie dann etwas mehr von dem, was sie ist: Wirklichkeit. 



Wir lassen uns auf die Alltagserfahrung und auf bestimmte Formen ihrer Verarbei-tung
und Darstellung ein‘ Dadurch werden die Sinnzusammenhänge, die wir darstellen,
 zwangsläufig den Bedingungen des Regionalen unterworfen.
 Das heißt, wenn der Leser in einzelnen Fällen oder gar prinzipiell den Sinn nicht
erfassen kann, so wird die Ursa-che dafür nicht darin zu suchen sein, dass er in der
 Schule nicht richtig aufgepasst oder dass er zu viel ferngesehen oder dass er zu wenig
 Bücher gelesen hat oder dass er viel-leicht die falschen Leute kennt. Vielmehr liegt es
 daran, dass wir alle und jeder für sich in bestimmten historischen und sozialen Zusammenhängen leben, aus denen wir nicht so ohne weiteres heraus können: 
Wir leben in einer bestimmten Zeit, an einem be-stimmten Ort, in einem bestimmten
 Personenkreis, mit bestimmten Verhaltensweisen und bestimmten Lebensansichten.
 Wir tragen bestimmte Hüte, wohnen in viereckigen Steinhäusern, wir versammeln uns 
in großen Sälen und bewegen unsere Körper nach rhythmischen Klängen. Wir lernen,
in eben solchen Zusammenhängen unsere Welt zu verstehen und uns in ihr zu verständigen. Ohne Schule. Täglich. Die Alltagserfahrung wächst uns während des 
kontinuierlichen Lebensprozesses zu, eigentlich immer so ne-benbei. Große Worte
 werden nicht drum gemacht. Der Versuch, die Alltagserfahrung aus ihrer regionalen Beschränktheit herauszulösen 
und ihr den Glanz des Überregiona-len verleihen zu wollen, wäre ihr Ende. Die lebensgeschichtlich sich vermittelnde Le-bensweisheit verkümmerte zur bedingungslosen 
Schulweisheit. 
Deshalb ist es notwen-dig, dass wir auf eine wesentliche Voraussetzung hinweisen, die
 für das sinnvolle Ver-stehen der Zusammenhänge, die hier bezeichnet werden,
unentbehrlich ist: 
Diejenigen, die ihre Erfahrungen aufs Papier bringen, und diejenigen, die das Papier 
dann in die Hand nehmen, müssen aus demselben Umkreis von Wirklichkeit
 kommen . . . und wir werden abwarten müssen, wie der Kreis abzustecken ist ...


Wenn wir mögliche Kreise abstecken um die, die unsere Arbeit verstehen, und wenn dabei heraus kommt, dass zu denen, die sie nicht verstehen, die Franzosen, die Hanno-veraner, Lehrerinnen über 40, Schachspieler, Wandervereine, Lehrlinge, Ärzte, Berufs-musiker und Rentnerehepaare gehören, und wenn sie sie verstehen wollen?

Was ist dann zu tun?

Nun, für diese wird man das Buch jeweils übersetzen müssen.

Und zwar so, wie man hatte Warhol übersetzen müssen, als man seine weitgereisten BRILLO-Kartons in Deutschlands Galerien aufbaute. Denn statt dieser exotischen Seifen-kisten hatten dort die vertrauten, ja fast schon zur deutschen Einrichtung gehörenden PERSIL-Kartons stehen sollen . . .

Schließlich bauen die Engländer bei ihren Autos ja auch das Steuerrad auf die linke Seite, wenn sie ihre Karossen auf dem Kontinent fahren lassen wollen. Eine entsprechend ori-entierte ,,Übersetzungsarbeit“ würde zeigen, ob sich die jeweils konkrete Alltagserfah-rung aus einem jeweils konkreten Umkreis von Wirklichkeit gegen die Manifestationen bevorzugter Alltagserfahrung aus einem bevorzugten Umkreis von Wirklichkeit durch-setzen bzw. sich an ihnen zu orientieren vermochte. Andererseits wird sie weiterhin ihr Aschenputtel-Dasein führen - angesichts von genialer Sonntagserfahrung, die in Werken der Bildenden Kunst etc. zu ehernen Werten erstarrt.


WISSEN IST MACHT?

Wir haben dieses Buch in einer Situation geschrieben, die im gegenwärtigen Leben bei-spielhaft ist: wir werden täglich und rund um die Uhr mit einer bedeutungsvollen Flut von Neuigkeiten, Wichtigkeiten, Belanglosigkeiten und Falschmeldungen über-schwemmt, von nah und fern, aus allen Ecken der Welt und vom Nachbarn von nebenan. Diese Flut, die auf uns zurollt, kann von uns weder aufgehalten, gebremst noch gebro-chen werden. Sie rollt über uns hinweg. Wir rappeln uns auf und fragen uns kaum ein-mal: was war denn das da eben? . . . und schon geht es wieder von vorn los, da kommt die nächste Welle.

Das Grundübel: Erstens: Wir sind in bestimmter Hinsicht Analphabeten, d.h. wir ahnen, dass da etwas gemeint ist, können aber nicht herausbekommen, was es bedeuten soll.

Zum anderen gibt es Nachrichten, deren Alphabet wir von A bis Z, einschließlich der Grammatik, die die einzelnen Einheiten zu verbindlichen Informationen verknüpft, flie-ßend beherrschen. Trotzdem gehen auch diese Informationen, die durchaus verständ-lich sind, spurlos an uns vorüber. Schlimmer noch:

Mit dem Ausklang der Tagesschau-Melodie weiß schon kein Fernsehzuschauer mehr, was da während der letzten 15 Minuten in ihn via Auge, via Ohr hineingewandert ist. Er selbst wird die Vermutung haben, die Nachrichten - Bilder wie Worte - seien nicht in ihn hinein, sondern durch ihn hindurch marschiert.

Was sollte er sich auch merken? Wie denn? Und im Hinblick worauf eigentlich?


Wir wissen viel über unsere Welt und wissen auch, wo man's nachschlagen kann. Aber wir unterscheiden kaum die Umstande, die uns jeweils in Kenntnis gesetzt haben: Wohl sind wir über Vieles informiert, haben aber nur das Wenigste selbst erfahren, am eigenen Leibe.


Beobachtungen geben Aufschluss darüber, dass man sehr wohl die mangelhafte Ausstat-tung mit Wissen, das sich handlungsmäßig erschlossen hat und so am lebensgeschichtli-chen Prozess sich festmachen lässt, bemerkt hat. Und es werden Versuche gemacht, die-sem Mangel zu begegnen, am besten gleich so, indem man Kapital daraus schlägt. Man rufe sich z.B. nur einen Urlaubstrend ins Gedächtnis, der in den letzten Jahren geradezu erfunden werden musste und ein riesiger Erfolg für die Veranstalter wurde: An allen Straßenecken wird er angeboten, der Sporturlaub, der Abenteuerurlaub, der Urlaub, der Dinge verspricht, die es eigentlich schon gar nicht mehr gibt, die langst aus dem tägli-chen Leben ausgeschieden sind: Entdecken der Natur, Berühren einer Felsenkante, 30 kg Gepäck durch das Gebüsch schleppen, ein bisschen hungern, ein bisschen dursten, das Mittagsmahl selbst erlegen, Muskelkater und Schweißtropfen, ein bisschen echte Angst, das inszenierte Risiko. Alles unter der Devise "Mehr Erleben".


Walter Benjamin beschrieb als einer der ersten eine "Armut der Erfahrung“ und versuchte, diese Armut in Beziehung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen zu bringen. Er hat darauf hingewiesen, dass es angesichts einer solchen Armut nicht darum gehen kann, den Mangel durch blinden Aktivismus einfach wettzumachen — etwa unter dem Motto: Hauptsache, es passiert was. Es geht nicht darum, das schlecht geschenkte Glas voll zu kippen, sondern herauszubekommen, wieso das Glas nur halb voll ist, das einem in die Hand gedrückt wurde.


Wollen wir nicht blind durch die Weltgeschichte irren, so ist eine Voraussetzung zu erfüllen: Wir müssen uns die "Armut an Erfahrung“ vergegenwärtigen, müssen diesen Sachverhalt auf uns beziehen und aufs erste überhaupt akzeptieren. Nur wenn wir selbst uns diese Armut eingestehen und diesen Sachverhalt als Indiz für bestimmte Verhältnisse und Zustände unserer Welt begreifen, können wir die organisierte Aneignung unseres gesellschaftlichen Lebens auf der Ebene der Erfahrung versuchen.


AUFRUF:

Kinder! Leser der Pionerskaja Pravda! Ihr erinnert Euch wohl wahrscheinlich an die Stelle in der Erzählung Mark Twains "Die Abenteuer des Tom Sawyer“, wo von den Taschen Toms erzählt wird? in diesen Taschen befanden sich die verschiedenartigsten Dinge - wie Nägel, Zwirn, Zettelchen und sogar eine krepierte Ratte. Die Aufzählung dieser Gegenstände ge-nügt, um uns ein klares Bild vom Charakter Toms, seiner Interessen und Heldentaten zu geben. Nun will ich Euch einen Vorschlag machen: Wollen wir zusammen ein Buch schreiben. In diesem Buch wird erzählt werden, was sich in Euren Taschen befindet. Da ist nichts zum Lachen. Ein jedes Ding, das Ihr seht oder in Euren Händen haltet, hat ein eigenes langes und interessantes Leben. Während dieses seines Lebens ist das Ding von Hand zu Hand ge-gangen, ist mit vielen Menschen in Berührung gekommen, hat verschiedene Umgestaltun-gen durchgemacht. Man muss es nur dazu bringen, dass es von sich erzählt.


Wollen wir die Dinge dazu bringen, dass sie erzählen. Auf diese Weise wird sich das nötige Material für Euch ansammeln und späterhin wird dieses Material literarisch bearbeitet werden. Alle zusammen werden wir die Autoren dieses Buches sein.


Wie das Material zu sammeln ist:

Zuerst lies diesen Artikel aufmerksam von Anfang bis zu Ende. Danach suche Dir denjenigen aus, dessen Tascheninhalt Du aufschreiben wirst. Vielleicht wird es Deine eigene Tasche sein.


Wichtig ist es, die Taschen der verschiedenartigsten Kinder zu beschreiben, deren Familien auf verschiedene Art arbeiten und deren Lebensart ihre Eigentümlichkeiten hat.

Zur Arbeit an dem Buche müssen Kinder von Metallarbeitern, Kolchosarbeitern, Zimmerleuten, Hirten, Nomaden, Jägern usw. usw. herangezogen werden.

Wähle eine freie Stunde, damit man Dich nicht stört, breite ein Blatt Papier oder ein
Zeitungsblatt auf dem Tisch aus und lege darauf in getrennte Häufchen den Inhalt 
einer jeden Tasche.
Die erste Bedingung ist, nichts zu verbergen und sich nicht zu schämen, denn es
 kommt vor, dass ein Knabe oder ein Mädchen ein Ding aus der Tasche zieht, das ihn
 oder es in komischem Licht erscheinen lässt, und schon versuchen sie, dieses Ding in
 die Tasche zurück zu stecken und es aus der Beschreibung auszuschließen oder aber 
sie denken sich in Eile irgendeine unwahrscheinliche Geschichte über das Ding aus. 
Auch kleine Dinge - kleine Stoffstückchen, Papierfetzen, Notizen - müssen auf das 
Zeitungspapier gelegt werden. Sogar kleine Krümchen schütte auf das Papier aus 
und versuche Dich daran zu erinnern, wie Du zu ihnen gekommen bist.
 Weiter beschreibe ein jedes Ding der Reihe nach.

Es muss genau beschrieben werden, auf welche Weise das Ding in die Tasche gekommen ist: Wer es gegeben hat, wann es gegeben wurde, wo Du es gefunden hast 
und sogar, wenn Du es jemandem fortgenommen hast, so erkläre, wie das geschah.
 Falls das Ding irgendwelche Schäden aufweist, oder Kratzer, zum Beispiel falls die
 Klinge des Federmessers zerbrochen ist, so erzähle, wann und bei welcher Gelegenheit das Messer zerbrach. 
Besonders ausführlich erzähle, weshalb das Ding in Deiner Tasche ist. Was Du damit 
anfangen willst. Sehr oft kommt es doch vor, dass man ein auf den ersten Blick unnütz
 erscheinendes Ding in die Tasche steckt, um ihm eine neue Bestimmung zu geben,
 etwas daran zu konstruieren, es an irgendeinem Spiel teilnehmen zu lassen.
 Über die Zettelchen, die sich in der Tasche befanden, schreibe ausführlich. Wo-von 
oder von wem in den Zettelchen die Rede ist, zu welchem Zweck Du den Zettel 
brauchst und wie er zu Dir in die Tasche kam. 
Falls Du die Zettelchen nicht mehr brauchen solltest, so füge sie der Beschreibung
 bei und schicke sie uns.


Von großer Wichtigkeit sind Notizbüchlein. Sie dürfen nicht nur als Ding beschrieben
 werden (wie sie aussehen, wie der Umschlag ist, woher sie stammen), man muss sich
 auch mit den Notizen darin bekanntmachen.
 Da es schwer wäre, das ganze Notizbuch zu beschreiben, muss man in Kürze erzählen, worin die Eigentümlichkeit dieses Notizbuches besteht. In einigen Notizbüchern sind hauptsächlich Zeichnungen, in anderen Pläne, wieder in anderen Zahlen
 oder Adressen, wieder in einem anderen Abschriften von Zitaten aus Büchern, die 
dem Eigentümer des Notizbuchs ganz besonders gefallen haben. Wieder in einem 
anderen Notizbuch nehmen Spiele viel Platz ein - zum Beispiel das Kreuzchenspiel.
 Wieder in einem anderen die Anleitung dazu, wie man dieses oder jenes Ding, ein
 Instrument oder einen Apparat herstellt.


Schreibe in folgender Reihenfolge auf:
 Zuerst nenne genau die Tasche, zum Beispiel die linke obere Blusentasche oder die
 Innentasche des Mantels oder die hintere Hosentasche. Das ist von Wichtigkeit, denn
 nach den Taschen sieht man, welche Dinge dem Menschen nötiger sind, was er so 
hält, dass er es schnell bei der Hand hat, und was er in die weiter entlegenen Taschen
 steckt. 
Nach der Benennung der Tasche zähle die Dinge auf, die darin enthalten waren. Und
 erst dann schreibe die Erzählung über jedes einzelne Ding. 
Falls die Dinge mit einem Bindfaden oder einem Kettchen an dem Gurt befestigt sind(z.B. das Federmesser, damit es nicht verloren geht), weil die Tasche ein Loch hat, so schreibe das auch.

Am Ende des Briefes gib an, wo der Inhaber der Tasche steht, was für eine Arbeit seine Familie und er selbst leistet, was für einen Charakter er hat und was für Spitznamen er in der Pionierabteilung oder in der Schule hat. Falls er nicht will, dass sein Name im Buch genannt wird, so nenne ihn nicht.

Hauptabmachung ist, dass die Taschen nur auf Grund einer freiwilligen Zustimmung be-schrieben werden. Keinen Wert hat es, wenn Du mit Gewalt jemandem die Dinge aus der Tasche ziehst und die Aufzahlung derselben an die Zeitschrift sendest. Solch eine Liste hat keinen Wert — sie hat kein Leben in sich.

Noch eine Abmachung: Die Taschen müssen sofort ohne vorhergehende Vereinbarung beschrieben werden, sonst könnte es geschehen, dass absichtlich, um das Interesse zu erhöhen, mehr verschiedenartige Dinge in die Tasche gesteckt werden. Dadurch wird ein falsches Bild entstehen.

Wichtig ist, dass gerade diejenigen Dinge beschrieben werden, die sich gewöhnlich in den Taschen befinden, nicht aber absichtlich um der Beschreibung willen hineingesteckt wurden.

Um Dir die Arbeit zu erleichtern, lies die Beschreibung der Tasche des Moskauer Pioniers Lev D. durch, die wir gemeinsam durchstudiert haben, nachdem wir uns zufällig in der Redaktion der Pionierskaja Pravda getroffen haben. Und jetzt das letzte: Wenn die Kinder sich weigern sollten, ihre Taschen zu zeigen, und sagen sollten, dass sie nicht wollen, dass man sie später auslache, muss man ihnen erklären, dass das Buch einen ganz ernsten Charakter tragen wird, und dass man niemand auslachen wird. Es wird wohl so viel Material einlaufen, dass man in dieser Masse einen jeden einzelnen Autor nicht analysieren können wird.
(Tretjakov)


VOM REGEN IN DIE TRAUFE.

Und so eine Tasche tragen wir alle mit uns herum, immer. Wir können die Tasche, die wir im Auge haben. jedoch nicht ablegen, wie man eine Manteltasche mit dem Ausziehen des Mantels ablegt, wir können sie auch nicht stehenlassen, so wie man eine Aktentasche irgendwo vergisst; nein, sie ist immer dabei. Außerdem können wir sie nicht verschlie-ßen, so wie man eine Hosentasche packen ständig etwas in sie hinein, wir können uns nicht dagegen wehren: es geschieht einfach, wenn nicht vorsätzlich, dann beiläufig.

Unsere Tasche ist außerdem so konstruiert, dass wir uns nicht vorstellen können, sie könnte irgendwann einmal voll sein; und zwar so voll, dass nichts mehr in sie hineinginge. Wohl kann sie den Anschein erwecken, prall gefüllt zu sein, ja sogar überzulaufen, indem ich mit dem Gefühl herumirre, dass das, was da eingepackt wird, gleich wieder herunterfällt oder aber sich Platz sucht und dabei irgendetwas anderes, das ich nicht einmal so schnell entziffern kann, hinauswirft. Ihr Fassungsvermögen kennt keine Grenzen.

Darüberhinaus findet das, was in die Tasche hineingesteckt wird, keinerlei Einschränkung durch seine Körperlichkeit, wie Ausdehnung, Gewicht, Farbe oder Anzahl. Denn das, was in die Tasche hineinwandert, ändert seine Materialität, sobald es sich auch nur auf den Weg macht: Das, was ich ständig einpacke, ist mit Händen nicht zu greifen; es hat keine unmittelbare Anschaulichkeit, es hat keine dingliche Gestalt, obwohl es als Uneingepacktes vor mir in seiner ganzen Wirklichkeit stand und steht, jawohl, nach dem Einpacken steht es trotzdem immer noch vor mir als reales Ding.


Das, was in der Tasche drin ist - wir wollen von den Dingen im Inneren reden - kommt nämlich nicht durch eine bloße Ortsverschiebung dort hinein, d.h. nicht dadurch, dass das Uneingepackte - wir wollen von den äußeren Dingen sprechen - in der Fülle seiner weltlichen Existenz einfach über die Schwelle der Tasche geschoben wird. Es ist vielmehr so, dass 1. die inneren Dinge nur möglich sind aufgrund der äußeren (ich kann nur dann etwas einpacken, wenn es etwas einzupacken gibt - auch wenn ich´s aus fremden Taschen ziehe) und 2. die inneren Dinge, die zu den äußeren hinzutreten. (Das Resultat des Einpackens ist nämlich nicht zu vergleichen mit dem einer Subtraktionsaufgabe, die von 5 wirklichen Äpfeln 2 durch Aufessen zum Verschwinden bringt, sie also tatsächlich der sichtbaren Wirklichkeit entzieht.)

Darüberhinaus verleiht der Prozess des Einpackens allen Dingen, die in die Tasche hineinwandern, die gleiche Qualität ihrer Existenz - so wie z.B. allen nur vorstellbaren Fotografien die gleiche Qualität, nämlich "Ergebnis eines fotografischen Prozesses" zu sein.


Die Tasche, man hat es inzwischen längst erraten, hat ihren Sitz in unser aller Köpfe und ihre objektive Gestalt in den kleinen grauen Zellen, in unseren Gehirnen, Abteilung Gedächtnis - bewusste, unbewusste Erinnerung.

Wie sieht es nun mit den Tascheninhalten aus? Mit dem, was in den Köpfen drin ist?

Wie kommt es hinein?

Die inneren Dinge werden durch den aktiven oder passiven, den vorsätzlichen oder bei-läufigen Einsatz unseres Wahrnehmungsapparates zu eben diesen. Der Wahrnehmungsapparat hat in dem Prozess, der zu den äußeren die inneren Dinge produziert, die Funktion einer Art Leitschiene für die Wirklichkeit, die sich auf ihr in mich hineinvermittelt.

Dabei hat die uns umgebende Wirklichkeit pro Wahrnehmungsqualität (sehen-hören-riechen-schmecken-fühlen) unterschiedliche Ausdehnungen und Strukturen. Dieselben Dinge können je nach Wahrnehmungsinstrument in völlig disparaten Realitätszusammenhängen stehen, der vereinzelten Wahrnehmungsqualität erscheinen sie jedoch notwendigerweise in einem kontinuierlichen Zusammenhang. Oder können Sie um die Ecke gucken, bei klarem Wetter meilenweit hören oder den aromageschützt verpackten Kaffee riechen?


VOM LEBEN IN DIE TASCHE.

Wir haben an den Aufruf Tretjakov´s angeknüpft und versucht, eine äquivalente Beziehung unter dem Überbegriff "Tasche" zu entwickeln. Der Punkt jedoch, an dem T.'s Anweisungen völlig unkompliziert ansetzen konnten, nämlich dem "Taschen-entleeren", wird uns die allergrößten Schwierigkeiten bereiten.

Dieser Anstrengung des Auspackens, das zustande kommen muss, damit überhaupt Prozesse des Ordnens, Kategorisierens, Benennens usw. der Tascheninhalte möglich werden können, muss unser Hauptaugenmerk gelten.

Denn: Unsere Tascheninhalte lassen sich eben nicht so unvermittelt, mit einer bloßen Handbewegung - auf den Tisch legen, wie es T. fordern konnte.

Bei den Tascheninhalten, die er untersuchen, aufschlüsseln wollte, handelte es sich jeweils um reale Dinge, die die Praxis des täglichen Lebens in die Tasche hat wandern lassen. Sie sind in der Tasche als Dinge im Innern genauso wirklich, körperlich wie vor dem Einpacken als äußere Dinge. Sie haben lediglich eine Ortsveränderung mitgemacht, sind dabei vom hellen Diffusen ins dunkle Diffuse geraten. Und der Prozess der Aufklärung ihres jeweiligen Lebens, der Struktur und Bedeutung in die beiden Vorstadien bringen soll, wird die Gegenstände identisch vor sich auf dem Tisch finden: Garnrolle bleibt Garnrolle bleibt Garnrolle, tote Ratte bleibt tote Ratte bleibt tote Ratte (jedenfalls im Prinzip). Dem Versuch der Aufklärung der Verhältnisse, deren jeweiliger Ausdruck die vorfindlichen konkreten Tascheninhalte sind, müssen wir zunächst die Lösung des folgenden Problems voranstellen: Unsere Tascheninhalte lassen sich nicht mit einer bloßen Hand-bewegung auf den Tisch werfen, ihnen fehlt die real anschauliche Gestalt. Wollen wir im Sinne Tretjakov´s vorgehen, so ist die reale Gegenständlichkeit des Ausgangsmaterials Grundvoraussetzung einer entsprechenden Arbeit.

D.h. in unserem Fall:

Wir müssen die Anschaulichkeit der Tascheninhalte selber produzieren, da sie es per se nicht sind. Der Prozess des Auskramens ist deshalb nur sinnvoll, wenn er zugleich ein Prozess der Vergegenständlichung ist.

=

VON DER TASCHE AUF DEN TISCH. === Ich wandere durch die Lüneburger Heide. Da weht plötzlich, unvermittelt, ein ganz be-stimmter Heidegeruch in meine Nase. Ein Geruch, der mehr ist als typischer Heidege-ruch, ein Geruch, der zu mehr als der Feststellung taugt: Heide ist doch eine wundervolle Landschaft. Es ist ein Geruch, den ich wiedererkenne als einen Geruch, an dem ganz viel von mir dran hängt. Es ist ein Geruch, den ich seit über zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder rieche - und den ich sofort mit unzähligen Elementen, die zu dem "alten" Geruch gehören, in Verbindung setze. Es ist fast so, als würde ein genau abgrenzbares Stück meiner Lebensgeschichte vor meinen Augen auftauchen (in Form eines kompletten Sets, dabei aber alle Teile, Dinge, Personen, Ereignisse, Taten gleichzeitig und ohne Reihenfolge). Plötzlich ist alles wieder da, zum Greifen nahe, zum ersten Male - und ist sofort wieder verschwunden, weg. Zurück bleibt die Gewissheit, dass da etwas ist, und zwar eine Tasche mit ganz viel drin; und dass es sich vielleicht lohnte, sie auszupacken - mit System.


Und da sitze ich nun mit meinem Inneren. Es trifft mich immer wieder unvorbereitet bei seinen Ausbruchversuchen. Ich kann ihm nicht dazu verhelfen, wieder Äußeres zu werden.


Ich bringe es ihm gegenüber zu kaum mehr als zu schmunzeln, zu grübeln, der alten Zeit nachzuhängen oder Geschwätzigkeit an den Tag zu legen, ich schlage die Möglichkeit, mir selbst als einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Menschen zu begegnen, in den Wind. Dabei ist das Innere immer von außen hineingekommen. Das Äußere wird als Inneres gehortet, in unendlich vielen Bildern mit unendlich vielen Versatzstücken, unendlich vielen Nachbarschaftsverhältnissen. Es behält sich vor, jedes mit jedem zu verknüpfen, umzuschichten, abzulagern, umzupo-len, auszumisten. Ich kann mir fast ausmalen, wie sehr das Innere dazu taugen könnte, um als das, was ich von der Welt bereits erfahren habe, jenes, was mir noch fehlt, verstehen zu helfen. Dazu sollte ich mein Inneres, diese Ansammlung von Eindrücken, Erinnerun-gen, Erlebnissen, Erfahrungen und Kenntnissen als einen Vorrat begreifen, mit dem ich im Sinne eines Nachschlagewerkes, einschließlich seiner Verweisungen, umzugehen lernen muss.

Geht es mir doch darum herauszufinden, ob ich mich eigentlich noch selbst verstehe; ob ich mich wiedererkenne in dem, was ich - jetzt, vor einem Jahr, vor Jahrzehnten - ge-macht habe, was ich gedacht und getrieben, geglaubt und gepredigt habe.

Aber warum bin ich so zurückhaltend mit mir? Warum schiele ich immer nur auf das ferne Vorbild, das Leben an der Grenze? ein Leben, das sich durch großartige Taten und Erfindungen auszeichnet, durch Wagemut und Ent-deckerfreude, den ganzen Einsatz von Leib und Seele; der Siedler, abgebrannt und aus-geraubt, die besten Freunde vom Sumpffieber weggerafft, fängt jedes mal von vorn an; das große Licht, das niemals so getroffen wird, dass es nicht in der Lage wäre, sich gleich die entsprechenden Gedanken zusammenzureimen, in Literatur; die öffentliche Person, die selbst nach Hinschlachtung der ganzen Sippe nicht davon abzubringen ist, verblie-benes Leben und Geld in Acapulco zu verjuxen? Ah! Solche Menschen können aus ihrem Leben erzählen, und es würde sich lohnen zu-zuhören. Aber man selbst? Worauf sollte man denn zurückkommen, wer sollte einem zuhören? einer bloß mittel-mäßigen Existenz mit einer kaum von einander zu unterscheidenden Nummernabfolge von Erfahrungen: kein einziger Höhepunkt weit und breit, kein Schicksalsschlag, kein Hauptgewinn. Alles Durchschnitt, aber dafür reichlich.

Das Leben an der Grenze ist eindeutig. Eines ergibt sich aus dem anderen, der rote Fa-den durchzieht alle Bereiche der Existenz - auch wenn's im Grunde ein Hundeleben ist.

Dem Leben im Mittelmaß fehlt dagegen die zwangsläufige Konsequenz. Der größere Zu-sammenhang hält sich verborgen. Die Fragen, die in einem solchen Leben zu beantwor-ten sind, stellen sich nicht mit dem Wechsel der Jahreszeiten, dem Zug der Vögel ein. Die müssen erst einmal herausgekramt und auf den Tisch gelegt werden. Zu solchen Fragen vorzudringen ist das Kernstück eines Lebens im Mittelmaß. Die Ar-beit an deren praktischer Beantwortung, für die ich nur mein Alltagswissen anzubieten habe, kann sich zur Richtschnur entwickeln für alles, was ich tue.

Dem Leben an der Grenze das Leben in der Tasche entgegenhalten!

Nur wer sich auferlegt, sich selbst gegenüberzutreten und sich zum Gegenstand der Be-trachtung zu machen, kann Richtung in sein Leben bringen.

Sich selbst gegenübertreten heißt: Das Innere nach außen kehren.

DEINE KUNST, DAS UNBEKANNTE WESEN. Heinrich Schliemann ist nun schon seit dem April des Jahres 1870 zusammen mit seiner jungen griechischen Frau und 1OO Arbeitern dabei, das homerische Troja auszugraben (wobei er später insgesamt neun versunkene Städte findet). Da entdeckt er am 14. Juni 1873, einen Tag vor dem vorläufig letzten Grabungstag, das, was seine Arbeit krönen sollte: Er entdeckt einen unermesslichen Goldschatz, den sagenhaften Schatz des Pria-mos, wie er irrtümlich annimmt. Nachdem das Ehepaar den Fund heimlich in seine Holzhütte gebracht und auf die rohe Tischplatte geschüttet hat, geschieht folgendes: Einer der beiden, so berichtet uns C.W. Ceram, wohl Schliemann selbst, kombiniert: Vermutlich hat jemand aus der Familie des Priamos den Schatz in aller Eile in eine Kiste gepackt, diese fortgetragen, ohne Zeit zu haben, den Schlüssel herauszuziehen, Kiste im Stich lassen müssen, die sogleich fünf oder sechs Fuß hoch mit der roten Asche oder den Steinen des danebenstehenden königlichen Palastes überschüttet wurde. Und Schliemann, der Phantast, nimmt ein Paar der Ohrgehänge, nimmt einen Halsschmuck und legt alles seiner jungen Frau an — dreitausendjährigen Schmuck für die zwanzigjäh-rige Griechin! Er starrt sie an. ,,Helena!“ flüstert er.

AM ANDEREN UFER. Wir sind bei allem, was uns begegnet oder widerfährt, auf der Suche nach Sinn. Das muss durchaus nicht vorsätzlich geschehen. Im Allgemeinen wird die Suche unter-schwellig betrieben, vor allem dann - und das ist der Fall, an den wir uns gewöhnt haben -, wenn es keinen Widerspruch gibt zwischen dem, was da nach Sinn ruft und dem, der da mit Sinn besetzt. Beispiel: Ein Lastwagen lädt auf einem unbebauten Nachbargrund-stück eine Ladung Ziegelsteine ab. - Da wird man ein Haus bauen, und in diesem Haus werden Leute wohnen. Vielleicht die Müllers? Die Sache ist ziemlich einfach. Auch wenn sich später herausstellt, dass in dem Haus gar nicht gewohnt, sondern büromäßig gear-beitet werden soll. - Liegt ja durchaus im Bereich der Möglichkeiten und kann man nicht unbedingt vorher wissen. Das, was um mich her geschieht, und wenn's nur herumliegt, hat die Eigenschaft, mich auf mehr zu verweisen als was es in seinem bloßen Vorhandensein ist. Es fällt mir in den meisten Fällen nicht sonderlich schwer (natürlich muss ich mir erst meine Gedanken drüber machen, wenn ich’s in Worte fassen soll) abzuschätzen, wo etwas herkommt und wo es hingeht bzw. wo etwas anfangt und wo es aufhört. Das meiste, was sich in meinem Umkreis ereignet, lässt sich ziemlich unproblematisch unterbringen, d.h. lässt sich be-stimmten, in sich sinnvollen Zusammenhängen meines Lebens zuordnen. Schwieriger wird es allerdings, wenn mir da etwas ,,Fremdländisches“ begegnet. Das Problem stellt sich eigentlich nur deswegen ein, weil ich dem ,,Fremdländischen“ ansehen kann, dass es etwas zu bedeuten hat, und ich kann die Bedeutung nicht herausbekommen. Ich kann mit ihm so auf Anhieb einfach nichts anfangen und eigentlich würde ich‘s gern.

Was ist zu tun? Ich betrachte das Unbekannte erst einmal von allen Seiten, so gut es geht. Es bieten sich schon einige Gesichtspunkte an, die mir einfallen und die ich ihm zuordnen kann. Und es werden schon mehr. Diese Gesichtspunkte ergeben sich dadurch, dass mich bestimmte Momente an diesem ,,Fremdländischen“ an durchaus Bekanntes erinnern. Dabei kann es natürlich sein - und das ist naheliegend -, dass die einzelnen Aspekte, auf die ich bei der Beschäftigung mit dem Fremden stoße, aus den unterschiedlichsten Gegenden mei-nes ,,heimatlichen“ Erfahrungsbereichs stammen. Und mit einem Mal stehen diese un-terschiedlichen Erfahrungsstücke, die in der Praxis, aus der sie kommen, nicht das Ge-ringste miteinander zu tun hatten, miteinander in Beziehung und sollen helfen, eine Sa-che, die nicht aus sich heraus zu verstehen ist, nun sinnvoll zu erschließen. Während der Forschungsarbeit verknüpfen sich die einzelnen Aspekte allmählich zu einem Netz von Beziehungen, und es wird deutlich, dass ich das Ganze nicht als Ganzes erschließen kann, sondern nur durch ein Gefüge von sinnvollen Beziehungen, in das es mir zerfällt. In diesem Netz sind die unterschiedlichsten Sinnmomente in engster Nach-barschaft miteinander. Einen Rückhalt dafür, dass ich mit diesem Netz auch tatsächlich etwas gefangen habe und nicht nur einen alten Autoreifen, finde ich auf zweierlei Art. Einmal so, dass mir der gesamte Sinnzusammenhang, in dem mein bruchstückhafter Komplex aufgeht, durch die, die ihn provoziert haben, selber hergestellt wird, sei es durch die aktuelle Praxis oder durch einen Dolmetscher, vielleicht sogar in Gestalt des Stammesphilosophen. Fehlt es jedoch an einer Möglichkeit rückzufragen - sei es, weil es überhaupt niemanden gibt, der Auskunft geben könnte, sei es, dass die Auskunft aus Unwillen verweigert wird, sei es, dass sie aus Unfähigkeit verweigert werden muss oder sei es, dass sie in einer Form vorgetragen wird, die als erklärende so rätselhaft ist wie das, wonach gefragt wurde - so bleibt uns nur: Ich muss mich an das halten, was ich selbst herausbekommen habe. Ich muss bei meinesgleichen nachfragen. Bei den Individuen, die mit mir am sel-ben Ufer stehen und ebenso Ausschau halten nach dem unbekannten Ganzen, das da drüben am anderen Ufer liegt. Wir verständigen uns über die unterschiedlichen Versuche, das Ganze zu verstehen, auf-zuschlüsseln. Und während wir alle aus unseren Erinnerungen hervorkramen, sie aufzeichnen, sie miteinander vergleichen und miteinander in Beziehung zu setzen suchen (am besten, das Vorhaben wird gleich ein bisschen organisiert), wird uns klar, dass wir auf diesem Wege nicht nur das Unbekannte da drüben verstehen können, wohlgemerkt: in unserem Sinne, sondern auch und vor allem uns selbst! Hier und nicht da drüben! Denn wir beschäftigen uns mit Erfahrungen, die wir während unseres bisherigen Lebens als Mitglieder von bestimmten sozialen und historischen Zusammenhängen gemacht und gesammelt haben. In diese Erfahrungen sind die Bedingungen unseres gesellschaft-lichen Lebens eingegangen. Wenn es uns nun gelänge, uns unsere eigenen Erfahrungen noch einmal vorzuführen und uns Gedanken über sie zu machen, machten wir uns nicht zugleich Gedanken über die Bedingungen unseres eigenen Lebens? Das heißt: Wir müssen, um uns mit uns selbst beschäftigen zu können, aus den gewohn-ten Zusammenhangen heraustreten. Das ist das Ungewöhnliche: Wir müssen uns selbst gegenübertreten. Wir müssen uns selbst zusehen, wie wir leben, wie wir erfahren, was wir erfahren, was wir tun, was wir wollen. Wir müssen uns sozusagen ans andere Ufer projizieren. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diese Beobachtung der Welt, in die man gehört, sowie die der eigenen Person, einzuüben und zu praktizieren. Wir wollen uns hierauf die Kunst beziehen, auf das, was vom anderen Ufer, am Nagel hangend, auf dem Sockel stehend, in den Sand gezeichnet, in den Stein geritzt zu uns herübergrüßt. Wenn wir sie in Anspruch nehmen, entheben wir uns der Schwierigkeit, zwischen all den anderen Dingen, die wir auch nicht verstehen und die dabei doch so vielversprechend anmuten, eine Auswahl zu treffen, denn die müssen wir dann wieder mit tausend Gründen rechtfertigen. Bei der Kunst ist das eben klar: Mit ihr kann man sich getrost beschäftigen, denn da sei was dran, so wird uns seit Jahrhunderten versichert. Als Beweis lässt man uns dann alle Kultusminister und die Senatoren für Wissenschaft und Kunst hochleben.

Dahas Waaasser war viehiel zuhu tief . . .

STROMABWÄRTS. Der Blick zum anderen Ufer hinüber legt es nahe, nach längerer und intensiver Betrach-tung dessen, was dort nach Bedeutung ruft, eine Unterscheidung zu treffen. Diese Unter-scheidung betrifft das Beziehungsgefüge der Erinnerungsbilder, die in uns aufgerufen und miteinander in Verbindung gebracht worden sind. Es scheint so, als wäre es sinnvoll, zwei grundsätzliche Möglichkeiten, in denen sich Assoziationen im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Kunstwerken einstellen, von einander zu trennen.

Es handelt sich einmal darum, dass die Assoziationen sich auf dem schnellsten Wege vom Ausgangspunkt, dem Kunstwerk, entfernen. Es hat den Anschein, als würden sie den Bedeutungshof, mit dem ein Kunstwerk sich umgibt, lediglich als ersten Veranlasser benötigen, um sodann in einer fortlaufenden Kette oder gar wie im Schneeballsystem sich an den bereits gebildeten Assoziationen weiter zu entwickeln. Sie haben vollauf mit sich selbst zu tun, vermögen anscheinend viel anregendere, weitreichendere Bedeutung zu erzeugen. Dabei lassen sie das Kunstwerk weit hinter sich, es macht, so von unserem Ufer aus betrachtet, eine recht kümmerliche Figur und könnte fast zum Strandgut ge-zählt werden: irgendwo, irgendwann, irgendwie, irgendwas.

Bei der zweiten Gruppe von Assoziationen dagegen haben wir den Eindruck, als würden sie sich nicht gradlinig aus dem Bedeutungshof entfernen, sondern als würden sie sich auf konzentrischen Bahnen um das Kunstwerk lagern, in mehr oder weniger engen Ab-ständen zum Kunstwerk. Wir vermuten, dass die Assoziationen das Sinnganze beschrei-ben, das sich ähnlich den Wellen, die ein ins Wasser geworfener Stein erzeugt, ausbreitet. Dabei erschließen sie immer neue, in dieses Kunstwerk zurückführende Perspektiven. Wir gewinnen schließlich den Eindruck, als würde die Summe all der auf das Kunstwerk gerichteten Assoziationen nicht in dem Maße auf einen Bedeutungshorizont verweisen, wie das Kunstwerk selbst es vermag. Das Kunstwerk verdient seinen Namen zu Recht: kein Strandgut.

Das Verfahren, mit dem wir unser Verstehen-Wollen von Kunstwerken vortragen, kann die beiden Typen von Assoziationsbildungen nicht in ihrer Struktur wiedergeben. Sie lassen sich dafür in den jeweiligen Sinnzusammenhängen ausmachen, und zwar in der Art und Weise, wie dort Sinn zusammenhängt und auseinander hervorgeht. Weiter: Durch das Verknüpfen der einzelnen Bilder, denen mit den Texten und den Ge-neralthemen Entsprechungen an die Seite gestellt werden, wird unausgesprochen Sinn konstituiert. Die Mehrdeutigkeit, die in allen am Darstellungsprozess beteiligten Ele-menten angelegt ist, wird dadurch ausgerichtet, dass die zusammengehörigen Elemente in ein Überschneidungsfeld hineinmanövriert werden. Der Erkenntnisvorgang orientiert sich an eben dieser Schnittmenge. Sie markiert den jeweiligen Sinnzusammenhang, er muss von jedem Betrachter aufs Neue aktualisiert werden.

STROMAUFWÄRTS. Es wäre durch weitere Versuche zu überprüfen, ob die von uns getroffene Unterschei-dung von zwei grundsätzlich verschiedenen Assoziationsabläufen verbindlichen Charak-ter gewinnen kann. Von hier aus wäre dann in die Struktur der Kunstwerke einzudrin-gen, wobei sich herausstellen könnte, dass zwischen ihr und dem, was die Assoziations-bildung und den jeweils damit verbundenen Prozess provoziert, ein unmittelbarer Zu-sammenhang besteht. Wenn wir fortgesetzt unseren Anspruch an die Kunst vortragen, mit ihrer Hilfe auf der Ebene der bildhaften, umgangssprachlichen Assoziationsbildung Sinnzusammenhänge zu erfahren und von ihr verlangen, dass sie aus sich heraus das jeweilige Unternehmen sinnvoll begrenzen kann - damit die Geschichte nicht uferlos weitergeht -, so sollten wir in absehbarer Zeit durchaus in der Lage sein, sie in ihren einzelnen Erscheinungsformen begründet beurteilen zu können. Wir sollten dann in der Lage sein, einzelnen Kunstwer-ken diese Fähigkeiten zu- oder absprechen zu können. Das würde bedeuten, dass wir, im Verfolg unserer Interessen, von guten und schlechten Kunstwerken sprechen könnten. Tja. Und dann nähme vielleicht das Publikum tatsächlich mal die Kunst in die Hand.

März 1974 Juni 1977 Achim Lipp