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„Die Kunst in Bildern zu denken“
== „Die Kunst in Bildern zu denken“ ==
Das Buch blättert sich vor:
== Der Weg zum Buch. Die Geschichte ==
Die Kunst in Bildern zu denken
1972-1977
=== Der Start ===
Im Zelt auf dem Campingplatz in Kassel abends lebhaftes Hin und Her beim Versuch, in gemeinsamen Besprechungen auf der Ebene der bildhaften Alltagserfahrung einzelne Kunstwerke durch Analogien, Vergleiche, Gegensätze, Anmutungen, Perspektivwechsel, Übertragungen etc. dingfest zu machen.
<gallery>
444 a Kassel Zeltkunst in Bildern.jpg|Wie soll man der Kunst beikommen? Abendliche Zusammenkunft im Zelt
Beispiel.jpg|Beschreibung2
</gallery>
In Kassel noch versuchsweise, ungelenk und zaghaft, später in den folgenden Wochen, Monaten und Jahren wurde das entsprechende Verfahren als <big>assoziativer Ansatz</big> bezeichnet, der sich vor allem in Bildskizzen formulierte, die rasch im Ping-Pong aufs Papier geworfen wurden. Wir haben es an zahlreichen Kunstwerken der d5 erprobt. Bei vielen hat es gut funktioniert, bei anderen weniger.
In dem Anschreiben an Hartmut von Hentig 11.10.1974 versuchte ich mit wenigen Worten die Grundzüge unseres Verfahrens zu erläutern. Es ging dabei um die Aneignung von Wirklichkeit auf der Ebene der organisierten Erfahrung
Damit war die 10tägige Reise der ZELTSCHULE zur documenta 5 nach Kassel gemeint Produktion von Wirklichkeit auf der Ebene der organisierten Vergegenständlichung von Erfahrung.<br>
=== Assoziationen ===
Damit war die gezeichneten Assoziationen zu ausgewählten Kunstwerken der documenta 5 gemeint
Intersubjektiv überprüfbare mehrdimensionale Alltagserfahrung
Damit waren die gegenseitige Anregung zu szenischen Assoziationen, die federnde Gliederung der Bilderströme, der wechselseitige Tausch und die Verkettung von Bildideen gemeint.<br>
Das systematische und andauernde Pingpong von beschriebenen Bildern und skizzierten Situationen wurde begleitet von den Bemühungen, Haufen, Stapel oder Reihen zu bilden; Stammbäume und Verzweigungen zu definieren, Verstrickungen zu lösen. Es war notwendig, die einzelnen Bilder und Bildkommentare in Netzwerke zu binden, weitere Vernetzungen zu initiieren, sie mit anderen zu verbinden, Korrespondenzen und unerwartete Nachbarschaften aufzudecken, entfernte Erfahrungen aufzurufen, zu strukturieren und in unterschiedliche Ketten einzufügen.<br>
<gallery>
15 Zeichnungen 1eee.jpg|bei der Arbeit
Beispiel.jpg|Beschreibung2
</gallery>
=== Verknüpfungen ===
Durch das Verknüpfen der einzelnen Bilder, denen mit den Texten und den Generalthemen Entsprechungen an die Seite gestellt werden, wird unausgesprochen Sinn konstituiert. Die Mehrdeutigkeit, die in allen am Darstellungsprozess beteiligten Elementen angelegt ist, wird dadurch ausgerichtet, dass die zusammengehörigen Elemente in ein Überschneidungsfeld hineinmanövriert werden. Der Erkenntnisvorgang orientiert sich an eben dieser Schnittmenge. <br>
Sie markiert den jeweiligen Sinnzusammenhang, er muss von jedem Betrachter aufs Neue aktualisiert werden.“ <br>
<gallery>
De Maria.jpg|Assoziation zu De Maria
Beispiel.jpg|Beschreibung2
</gallery>
1973 lagen drei verschiedene Fassungen vor – da waren wir gerade etwas länger als ein Jahr an der Arbeit. Ein ganzer Stapel von Beiträgen wurde zunächst auf Halde gelegt.<br>
<gallery mode="packed-hover">
444 zeltschule Nele c Buch 1 2.jpg|verknüpfen, sortieren, umsetzen...
448 Kunst in Bildern entfällt3.jpg2|vorerst aussortiert und auf Halde gelegt
446 Kunst in Bildern 3 Fassungen 2.jpg|drei Fassungen
447 Kunst in Bildern 3 Fassungen 1.jpg|drei Fassungen, Front
</gallery>
Bereits nach 16 Monaten dachten wir, dass wir in kürze unser Buch zur Kunstrezeption vorlegen konnten. Die vierte Fassung legten wir dann dem Verlag DuMont vor.<br>
<gallery mode="packed-hover">
Kunst leben.jpg|Die erste Idee für einen Titel </gallery>Aber da hatten wir uns getäuscht.<br>Die zunächst aussichtsvollen Gespräche für eine verliefen sich leider. Zu teuer! War das letzte Argument.<br>Immerhin war unsere Arbeit ein Ausfluss der d5 – und die hatte es ja in sich. Es gab nichts Vergleichbares.<br>Auch Hartmut von Hentig, der dabei war, neue Formen der schulischen und universitären Ausbildung zu erproben, konnte nicht weiter helfen.<br> === Das Ende ===Das Studium an der HFBK ging 1975 dem Ende zu und damit auch die aktive Zusammenarbeit der ZELTSCHULE. Der durch die Ausbildungssituation gestiftete soziale wie auch der räumliche Zusammenhang war nicht mehr gegeben, der ideelle verblasste. Aus vielen privaten und beruflichen Einschränkungen durch neue Lebenssituationen konnte die Arbeitsgruppe Buch nicht erneut installiert werden, zu der ich eingeladen hatte. Also beschloss ich, das Projekt auf der Grundlage eines neuen einheitlichen Konzeptes alleine zu Ende zu führen und mit dem Titel 1 "Die Kunst in BILDERNBildern zu denken. Leitfäden durch das Museum der Alltagserfahrung" in den Druck zu geben.<br> Bedauerlicherweise hat sich nicht die Gelegenheit ergeben, die Titelei vertieft zu diskutieren, was zu einer dauerhaften Verstimmung der am Buch beteiligten Zeltschüler führte. Der Konflikt ließ sich nicht auflösen.<br> Es gab keine gemeinsamen Kräfte mehr, die ausdauernd in der Lage gewesen wären, das Projekt in seine verdiente Öffentlichkeit zu befördern. Und auch kein Geld.<br>Das Buch kommt also nicht in den Handel. Es wird weitergereicht: an die Zeltschüler, Freunde, Interessierte, Reste der 2.JPG000 Exemplare verharren seit über 40 Jahren auf Dachböden und in Lagern.<br><gallery>Beispiel.jpg|Die Bücher in ihrem Originalkarton
Beispiel.jpg|Beschreibung2
</gallery>
Hier kommt die aller Gruppenarbeit innewohnende Schwierigkeit zum Tragen, wenn es gilt, gemeinsame Projekte abzuschließen, die Voraussetzungen für gemeinsames Agieren und Interagieren allerdings nicht mehr gegeben sind, wenn der institutionelle Rahmen für den Einzelnen seine lebensgeschichtliche Bedeutung erfüllt hat und die folgerichtige Vereinzelung der Zeltschüler dem weiteren Zusammenhalt die Grundlage entzieht.<br>Doch das Leittier in seiner Verantwortlichkeit und als Beispielgeber entschließt sich, die unvollendete Arbeit allein zu Ende zu bringen. Die Teilstücke sind in ihre endgültige Form zu bringen und neue Elemente zu entwerfen, um daraus schließlich ein Ganzes zu konstruieren.<br>Das Buch einfach unfertig in der Versenkung verschwinden zu lassen?<br>Einfach undenkbar, auch wenn dazu noch einmal 2 Jahre lang gearbeitet werden musste!<br>Das Buch wird gedruckt, auf eigene Faust. Ein Rezensionsexemplar wurde an die ZEIT geschickt zu Händen Petra Kipphof, von der wir und einiges versprachen, allerdings vergebens.<br>Wegen der Titelei gab es mit den beteiligten Zeltschülern Krach, sie wollten nicht als "et alia" auf dem Aussenumschlag stehen, innen war es korrekt: alle wurden genannt.<br>So wurde das Buch nicht in die Welt geschickt, sondern es verschwand einfach in Kellern und auf Dachböden; wurden einfach so weitergegeben. Man wundert sich: auf ebay und bei ZVAB gibt es immer wieder Exemplare zum Angebot.<br>== = 2020: nach 42 Jahren ein neuer Anlauf ===Ein neuer Schutzumschlag mit der ausführlichen Titelei, einem Klappentext, den es vorher nicht gab, und einer ausführlichen Einführung aus dem Blickwinkel heutigen Verständnisses. So wird das Buch in seiner Restauflage von wenigen Hundert Exemplaren und nun versehen mit einer ISDN, doch noch einmal in die Öffentlichkeit geschickt.<br>Das in einer Zeit, in der sich die Museumslandschaft mit einem veränderten Verhältnis zur Kunst und seiner Schubladenordnung kritisch zu wandeln scheint.Der wissenschaftliche Zugang ist nicht länger der Königsweg, vielmehr zeigt sich der assoziative Approach nicht nur von amatuerhaften Rezipienten, sondern eben auch von professionellen Kuratoren als gangbar. Die Entschlüssellung von Kunstwerken erhält eine weitere Dimension. <ref>Alles ist gleich viel wert, in: FAS vom 28.Oktober 2019; Das Ende des Kanons. Ein Rundgang durchs renovierte MoMA in New York, in: SZ vom 17.Oktober 2019; Das wilde Auge, in: DIE ZEIT vom 17.Oktober 2019; </ref> == <big>Nun zum Buch (1977).</big> Vorüberlegungen aus dem Nachhinein: ==
=== BITTE UMBLÄTTERN. ===
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<gallery>
Ein Wort ist ein Wort - und
kein Stuhl, ein Satz ist ein Satz - und kein Mann, der auf einem Stuhl sitzt.<br>
Die Sprache der Worte ist unentbehrlich geworden, sie bringt uns die krause Wirklichkeit auf den Begriff.<br>
In diesem Buch nun wird versucht, sie aufs Bild zu bringen.
<br>
Vielleicht bleibt sie dann etwas mehr von dem, was sie ist: Wirklichkeit.
<br>
Wir lassen uns auf die Alltagserfahrung und auf bestimmte Formen ihrer Verarbeitung
und Darstellung ei. Dadurch werden die Sinnzusammenhänge, die wir darstellen,
zwangsläufig den Bedingungen des Regionalen unterworfen.
Das heißt, wenn der Leser in einzelnen Fällen oder gar prinzipiell den Sinn nicht
erfassen kann, so wird die Ursache dafür nicht darin zu suchen sein, dass er in der
Schule nicht richtig aufgepasst oder dass er zu viel ferngesehen oder dass er zu wenig
Bücher gelesen hat oder dass er vielleicht die falschen Leute kennt. <br>
Vielmehr liegt es
daran, dass wir alle und jeder für sich in bestimmten historischen und sozialen Zusammenhängen leben, aus denen wir nicht so ohne weiteres heraus können:
Wir leben in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, in einem bestimmten
Personenkreis, mit bestimmten Verhaltensweisen und bestimmten Lebensansichten.
<br>
Der Versuch, die Alltagserfahrung aus ihrer regionalen Beschränktheit herauszulösen
und ihr den Glanz des Überregionalen verleihen zu wollen, wäre ihr Ende. Die lebensgeschichtlich sich vermittelnde Lebensweisheit verkümmerte zur bedingungslosen
Schulweisheit.
Deshalb ist es notwen-dig, dass wir auf eine wesentliche Voraussetzung hinweisen, die
für das sinnvolle Verstehen der Zusammenhänge, die hier bezeichnet werden,
unentbehrlich ist: <br>
Diejenigen, die ihre Erfahrungen aufs Papier bringen, und diejenigen, die das Papier
dann in die Hand nehmen, müssen aus demselben Umkreis von Wirklichkeit
kommen . . . und wir werden abwarten müssen, wie der Kreis abzustecken ist ...<br>
Wenn wir mögliche Kreise abstecken um die, die unsere Arbeit verstehen, und wenn dabei heraus kommt, dass zu denen, die sie nicht verstehen, die Franzosen, die Hannoveraner, Lehrerinnen über 40, Schachspieler, Wandervereine, Lehrlinge, Ärzte, Berufsmusiker und Rentnerehepaare gehören, und wenn sie sie verstehen wollen?<br>
Was ist dann zu tun?<br>
Und zwar so, wie man hatte Warhol übersetzen müssen, als man seine weitgereisten BRILLO-Kartons in Deutschlands Galerien aufbaute. Denn statt dieser exotischen Seifenkisten hÄtten dort die vertrauten, ja fast schon zur deutschen Einrichtung gehörenden PERSIL-Kartons stehen sollen . . .<br>
Schließlich bauen die Engländer bei ihren Autos ja auch das Steuerrad auf die linke Seite, wenn sie ihre Karossen auf dem Kontinent fahren lassen wollen. Eine entsprechend orientierte "Übersetzungsarbeit" würde zeigen, ob sich die jeweils konkrete Alltagserfahrung aus einem jeweils konkreten Umkreis von Wirklichkeit gegen die Manifestationen bevorzugter Alltagserfahrung aus einem bevorzugten Umkreis von Wirklichkeit durch-setzen bzw. sich an ihnen zu orientieren vermochte. Andererseits wird sie weiterhin ihr Aschenputtel-Dasein führen - angesichts von genialer Sonntagserfahrung, die in Werken der Bildenden Kunst etc. zu ehernen Werten erstarrt.
=== WISSEN IST MACHT? ===
Wir haben dieses Buch in einer Situation geschrieben, die im gegenwärtigen Leben beispielhaft ist: wir werden täglich und rund um die Uhr mit einer bedeutungsvollen Flut von Neuigkeiten, Wichtigkeiten, Belanglosigkeiten und Falschmeldungen überschwemmt, von nah und fern, aus allen Ecken der Welt und vom Nachbarn von nebenan.<br>
Diese Flut, die auf uns zurollt, kann von uns weder aufgehalten, gebremst noch gebrochen werden. Sie rollt über uns hinweg. Wir rappeln uns auf und fragen uns kaum einmal: was war denn das da eben? . . . und schon geht es wieder von vorn los, da kommt die nächste Welle. <br>
Das Grundübel: <br>
Erstens: Wir sind in bestimmter Hinsicht Analphabeten, d.h. wir ahnen, dass da etwas gemeint ist, können aber nicht herausbekommen, was es bedeuten soll.<br>
Zum anderen gibt es Nachrichten, deren Alphabet wir von A bis Z, einschließlich der Grammatik, die die einzelnen Einheiten zu verbindlichen Informationen verknüpft, fließend beherrschen. Trotzdem gehen auch diese Informationen, die durchaus verständlich sind, spurlos an uns vorüber. Schlimmer noch:<br>
Mit dem Ausklang der Tagesschau-Melodie weiß schon kein Fernsehzuschauer mehr, was da während der letzten 15 Minuten in ihn via Auge, via Ohr hineingewandert ist. Er selbst wird die Vermutung haben, die Nachrichten - Bilder wie Worte - seien nicht in ihn hinein, sondern durch ihn hindurch marschiert. <br>
Was sollte er sich auch merken? <br>Wie denn? <br>Und im Hinblick worauf eigentlich? <br>
Wir wissen viel über unsere Welt und wissen auch, wo man's nachschlagen kann. Aber wir unterscheiden kaum die Umstande, die uns jeweils in Kenntnis gesetzt haben: Wohl sind wir über Vieles informiert, haben aber nur das Wenigste selbst erfahren, am eigenen Leibe.<br>
Beobachtungen geben Aufschluss darüber, dass man sehr wohl die mangelhafte Ausstattung mit Wissen, das sich handlungsmäßig erschlossen hat und so am lebensgeschichtlichen Prozess sich festmachen lässt, bemerkt hat. Und es werden Versuche gemacht, diesem Mangel zu begegnen, am besten gleich so, indem man Kapital daraus schlägt.<br>
Man rufe sich z.B. nur einen Urlaubstrend ins Gedächtnis, der in den letzten Jahren geradezu erfunden werden musste und ein riesiger Erfolg für die Veranstalter wurde: An allen Straßenecken wird er angeboten, der Sporturlaub, der Abenteuerurlaub, der Urlaub, der Dinge verspricht, die es eigentlich schon gar nicht mehr gibt, die längst aus dem täglichen Leben ausgeschieden sind: Entdecken der Natur, Berühren einer Felsenkante, 30 kg Gepäck durch das Gebüsch schleppen, ein bisschen hungern, ein bisschen dursten, das Mittagsmahl selbst erlegen, Muskelkater und Schweißtropfen, ein bisschen echte Angst, das inszenierte Risiko. Alles unter der Devise "Mehr Erleben".<br>
Walter Benjamin beschrieb als einer der ersten eine "Armut der Erfahrung“ und versuchte, diese Armut in Beziehung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen zu bringen. Er hat darauf hingewiesen, dass es angesichts einer solchen Armut nicht darum gehen kann, den Mangel durch blinden Aktivismus einfach wettzumachen — etwa unter dem Motto: Hauptsache, es passiert was. Es geht nicht darum, das schlecht geschenkte Glas voll zu kippen, sondern herauszubekommen, wieso das Glas nur halb voll ist, das einem in die Hand gedrückt wurde.<br>
Wollen wir nicht blind durch die Weltgeschichte irren, so ist eine Voraussetzung zu erfüllen: Wir müssen uns die "Armut an Erfahrung“ vergegenwärtigen, müssen diesen Sachverhalt auf uns beziehen und aufs erste überhaupt akzeptieren. Nur wenn wir selbst uns diese Armut eingestehen und diesen Sachverhalt als Indiz für bestimmte Verhältnisse und Zustände unserer Welt begreifen, können wir die organisierte Aneignung unseres gesellschaftlichen Lebens auf der Ebene der Erfahrung versuchen.<br>
=== AUFRUF: ===
Der russische Schriftsteller <big>Sergej Tretjakov</big> (1892-1939) veröffentlichte im Jahr 1926 einen wundersamen Aufruf:<br>"Kinder! Leser der Pionerskaja Pravda! Ihr erinnert Euch wohl wahrscheinlich an die Stelle in der Erzählung Mark Twains "Die Abenteuer des Tom Sawyer“, wo von den Taschen Toms erzählt wird? in diesen Taschen befanden sich die verschiedenartigsten Dinge - wie Nägel, Zwirn, Zettelchen und sogar eine krepierte Ratte. Die Aufzählung dieser Gegenstände ge-nügtgenügt, um uns ein klares Bild vom Charakter Toms, seiner Interessen und Heldentaten zu geben. Nun will ich Euch einen Vorschlag machen: Wollen wir zusammen ein Buch schreiben. <br>In diesem Buch wird erzählt werden, was sich in Euren Taschen befindet. Da ist nichts zum Lachen. Ein jedes Ding, das Ihr seht oder in Euren Händen haltet, hat ein eigenes langes und interessantes Leben. Während dieses seines Lebens ist das Ding von Hand zu Hand ge-gangengegangen, ist mit vielen Menschen in Berührung gekommen, hat verschiedene Umgestaltun-gen Umgestaltungen durchgemacht. Man muss es nur dazu bringen, dass es von sich erzählt.<br>
Wollen wir die Dinge dazu bringen, dass sie erzählen. Auf diese Weise wird sich das nötige Material für Euch ansammeln und späterhin wird dieses Material literarisch bearbeitet werden. Alle zusammen werden wir die Autoren dieses Buches sein.<br>
<big>Wie das Material zu sammeln ist: </big> <br>
Zuerst lies diesen Artikel aufmerksam von Anfang bis zu Ende. Danach suche Dir denjenigen aus, dessen Tascheninhalt Du aufschreiben wirst. Vielleicht wird es Deine eigene Tasche sein.<br>
Wichtig ist es, die Taschen der verschiedenartigsten Kinder zu beschreiben, deren Familien auf verschiedene Art arbeiten und deren Lebensart ihre Eigentümlichkeiten hat. <br>
Zur Arbeit an dem Buche müssen Kinder von Metallarbeitern, Kolchosarbeitern, Zimmerleuten, Hirten, Nomaden, Jägern usw. usw. herangezogen werden. <br>
Wähle eine freie Stunde, damit man Dich nicht stört, breite ein Blatt Papier oder ein
Zeitungsblatt auf dem Tisch aus und lege darauf in getrennte Häufchen den Inhalt
einer jeden Tasche.
Die erste Bedingung ist, nichts zu verbergen und sich nicht zu schämen, denn es
kommt vor, dass ein Knabe oder ein Mädchen ein Ding aus der Tasche zieht, das ihn
oder es in komischem Licht erscheinen lässt, und schon versuchen sie, dieses Ding in
die Tasche zurück zu stecken und es aus der Beschreibung auszuschließen oder aber
sie denken sich in Eile irgendeine unwahrscheinliche Geschichte über das Ding aus.
Auch kleine Dinge - kleine Stoffstückchen, Papierfetzen, Notizen - müssen auf das
Zeitungspapier gelegt werden. Sogar kleine Krümchen schütte auf das Papier aus
und versuche Dich daran zu erinnern, wie Du zu ihnen gekommen bist.
<br>
Weiter beschreibe ein jedes Ding der Reihe nach.
<br>
Es muss genau beschrieben werden, auf welche Weise das Ding in die Tasche gekommen ist: Wer es gegeben hat, wann es gegeben wurde, wo Du es gefunden hast
und sogar, wenn Du es jemandem fortgenommen hast, so erkläre, wie das geschah.
Falls das Ding irgendwelche Schäden aufweist, oder Kratzer, zum Beispiel falls die
Klinge des Federmessers zerbrochen ist, so erzähle, wann und bei welcher Gelegenheit das Messer zerbrach.
Besonders ausführlich erzähle, weshalb das Ding in Deiner Tasche ist. Was Du damit
anfangen willst. Sehr oft kommt es doch vor, dass man ein auf den ersten Blick unnütz
erscheinendes Ding in die Tasche steckt, um ihm eine neue Bestimmung zu geben,
etwas daran zu konstruieren, es an irgendeinem Spiel teilnehmen zu lassen.
Über die Zettelchen, die sich in der Tasche befanden, schreibe ausführlich. Wo-von Wovon
oder von wem in den Zettelchen die Rede ist, zu welchem Zweck Du den Zettel
brauchst und wie er zu Dir in die Tasche kam.
Falls Du die Zettelchen nicht mehr brauchen solltest, so füge sie der Beschreibung
bei und schicke sie uns.
<br>
Von großer Wichtigkeit sind Notizbüchlein. Sie dürfen nicht nur als Ding beschrieben
werden (wie sie aussehen, wie der Umschlag ist, woher sie stammen), man muss sich
auch mit den Notizen darin bekanntmachen.
Da es schwer wäre, das ganze Notizbuch zu beschreiben, muss man in Kürze erzählen, worin die Eigentümlichkeit dieses Notizbuches besteht. In einigen Notizbüchern sind hauptsächlich Zeichnungen, in anderen Pläne, wieder in anderen Zahlen
oder Adressen, wieder in einem anderen Abschriften von Zitaten aus Büchern, die
dem Eigentümer des Notizbuchs ganz besonders gefallen haben. Wieder in einem
anderen Notizbuch nehmen Spiele viel Platz ein - zum Beispiel das Kreuzchenspiel.
Wieder in einem anderen die Anleitung dazu, wie man dieses oder jenes Ding, ein
Instrument oder einen Apparat herstellt.
<br>
Schreibe in folgender Reihenfolge auf:
Zuerst nenne genau die Tasche, zum Beispiel die linke obere Blusentasche oder die
Innentasche des Mantels oder die hintere Hosentasche. Das ist von Wichtigkeit, denn
nach den Taschen sieht man, welche Dinge dem Menschen nötiger sind, was er so
hält, dass er es schnell bei der Hand hat, und was er in die weiter entlegenen Taschen
steckt.
Nach der Benennung der Tasche zähle die Dinge auf, die darin enthalten waren. Und
erst dann schreibe die Erzählung über jedes einzelne Ding.
Falls
<br>Falls die Dinge mit einem Bindfaden oder einem Kettchen an dem Gurt befestigt sind(z.B. das Federmesser, damit es nicht verloren geht), weil die Tasche ein Loch hat, so schreibe das auch.<br>
Am Ende des Briefes gib an, wo der Inhaber der Tasche steht, was für eine Arbeit seine Familie und er selbst leistet, was für einen Charakter er hat und was für Spitznamen er in der Pionierabteilung oder in der Schule hat. Falls er nicht will, dass sein Name im Buch genannt wird, so nenne ihn nicht.<br>
Hauptabmachung ist, dass die Taschen nur auf Grund einer freiwilligen Zustimmung be-schrieben werden. Keinen Wert hat es, wenn Du mit Gewalt jemandem die Dinge aus der Tasche ziehst und die Aufzahlung derselben an die Zeitschrift sendest. Solch eine Liste hat keinen Wert — sie hat kein Leben in sich.<br>
Noch eine Abmachung: Die Taschen müssen sofort ohne vorhergehende Vereinbarung beschrieben werden, sonst könnte es geschehen, dass absichtlich, um das Interesse zu erhöhen, mehr verschiedenartige Dinge in die Tasche gesteckt werden.
Dadurch wird ein falsches Bild entstehen.<br>
Wichtig ist, dass gerade diejenigen Dinge beschrieben werden, die sich gewöhnlich in den Taschen befinden, nicht aber absichtlich um der Beschreibung willen hineingesteckt wurden.<br>
Um Dir die Arbeit zu erleichtern, lies die Beschreibung der Tasche des Moskauer Pioniers Lev D. durch, die wir gemeinsam durchstudiert haben, nachdem wir uns zufällig in der Redaktion der Pionierskaja Pravda getroffen haben. Und jetzt das letzte: Wenn die Kinder sich weigern sollten, ihre Taschen zu zeigen, und sagen sollten, dass sie nicht wollen, dass man sie später auslache, muss man ihnen erklären, dass das Buch einen ganz ernsten Charakter tragen wird, und dass man niemand auslachen wird. Es wird wohl so viel Material einlaufen, dass man in dieser Masse einen jeden einzelnen Autor nicht analysieren können wird. " <br>(Tretjakov)<br><br>
<ref>Im Jahre 2016 schreibt Jules van der Ley(https://trittenheim.wordpress.com/2016/04/21/krempel-aus-der-hosentasche-sergej-tretjakovs-biographie-der-dinge/ <br>
"... Die Geschichten, die auf diese Weise erzählt wurden, handelten nur scheinbar von den Dingen aus den Hosentaschen. In Wahrheit gaben sie Auskunft über die Eigentümer, und so wurden aus den Biographien der Dinge unmerklich autobiographische Notizen. Tretjakovs geniales Projekt lädt noch heute zur Nachahmung ein. Kein Krümchen, kein Papierfetzen ist dabei zu unscheinbar, selbst das winzigste Fädchen kann eine Erinnerung wachrufen und somit zum Erzählanlass werden. Einige Jahre sammelte ich im Deutschunterricht der 5. Klassen des Gymnasiums Schülertexte in Anlehnung an Tretjakovs Hosentaschenprojekt und gestaltete ein Buch daraus. Das Projekt gab den Kindern einer neu zusammengestellten Klassengemeinschaft die Gelegenheit, etwas über sich zu erzählen und etwas von den anderen zu erfahren...</ref>
=== VOM REGEN IN DIE TRAUFE. ===
Unsere Tasche ist außerdem so konstruiert, dass wir uns nicht vorstellen können, sie könnte irgendwann einmal voll sein; und zwar so voll, dass nichts mehr in sie hineinginge. Wohl kann sie den Anschein erwecken, prall gefüllt zu sein, ja sogar überzulaufen, indem ich mit dem Gefühl herumirre, dass das, was da eingepackt wird, gleich wieder herunterfällt oder aber sich Platz sucht und dabei irgendetwas anderes, das ich nicht einmal so schnell entziffern kann, hinauswirft. Ihr Fassungsvermögen kennt keine Grenzen.<br>
Darüberhinaus findet das, was in die Tasche hineingesteckt wird, keinerlei Einschränkung durch seine Körperlichkeit, wie Ausdehnung, Gewicht, Farbe oder Anzahl. Denn das, was in die Tasche hineinwandert, ändert seine Materialität, sobald es sich auch nur auf den Weg macht: Das, was ich ständig einpacke, ist mit Händen nicht zu greifen; es hat keine unmittelbare Anschaulichkeit, es hat keine dingliche Gestalt, obwohl es als Uneingepacktes vor mir in seiner ganzen Wirklichkeit stand und steht, jawohl, nach dem Einpacken steht es trotzdem immer noch vor mir als reales Ding.<br>
Das, was in der Tasche drin ist - wir wollen von den Dingen im Inneren reden - kommt nämlich nicht durch eine bloße Ortsverschiebung dort hinein, d.h. nicht dadurch, dass das Uneingepackte - wir wollen von den äußeren Dingen sprechen - in der Fülle seiner weltlichen Existenz einfach über die Schwelle der Tasche geschoben wird. <br>
Es ist vielmehr so, dass 1. die inneren Dinge nur möglich sind aufgrund der äußeren (ich kann nur dann etwas einpacken, wenn es etwas einzupacken gibt - auch wenn ich´s aus fremden Taschen ziehe) und 2. die inneren Dinge, die zu den äußeren hinzutreten. (Das Resultat des Einpackens ist nämlich nicht zu vergleichen mit dem einer Subtraktionsaufgabe, die von 5 wirklichen Äpfeln 2 durch Aufessen zum Verschwinden bringt, sie also tatsächlich der sichtbaren Wirklichkeit entzieht.)<br>
Darüberhinaus verleiht der Prozess des Einpackens allen Dingen, die in die Tasche hineinwandern, die gleiche Qualität ihrer Existenz - so wie z.B. allen nur vorstellbaren Fotografien die gleiche Qualität, nämlich "Ergebnis eines fotografischen Prozesses" zu sein. <br>
Die Tasche, man hat es inzwischen längst erraten, hat ihren Sitz in unser aller Köpfe und ihre objektive Gestalt in den kleinen grauen Zellen, in unseren Gehirnen, Abteilung Gedächtnis - bewusste, unbewusste Erinnerung.<br>
Wie sieht es nun mit den Tascheninhalten aus? Mit dem, was in den Köpfen drin ist?<br>
Wie kommt es hinein?<br>
Die inneren Dinge werden durch den aktiven oder passiven, den vorsätzlichen oder bei-läufigen Einsatz unseres Wahrnehmungsapparates zu eben diesen. Der Wahrnehmungsapparat hat in dem Prozess, der zu den äußeren die inneren Dinge produziert, die Funktion einer Art Leitschiene für die Wirklichkeit, die sich auf ihr in mich hineinvermittelt.<br>
Dabei hat die uns umgebende Wirklichkeit pro Wahrnehmungsqualität (sehen-hören-riechen-schmecken-fühlen) unterschiedliche Ausdehnungen und Strukturen. Dieselben Dinge können je nach Wahrnehmungsinstrument in völlig disparaten Realitätszusammenhängen stehen, der vereinzelten Wahrnehmungsqualität erscheinen sie jedoch notwendigerweise in einem kontinuierlichen Zusammenhang. Oder können Sie um die Ecke gucken, bei klarem Wetter meilenweit hören oder den aromageschützt verpackten Kaffee riechen?<br>
=== VOM LEBEN IN DIE TASCHE. ===
Wir haben an den Aufruf Tretjakov´s angeknüpft und versucht, eine äquivalente Beziehung unter dem Überbegriff "Tasche" zu entwickeln. Der Punkt jedoch, an dem T.'s Anweisungen völlig unkompliziert ansetzen konnten, nämlich dem "Taschen-entleeren", wird uns die allergrößten Schwierigkeiten bereiten.<br>
Dieser Anstrengung des Auspackens, das zustande kommen muss, damit überhaupt Prozesse des Ordnens, Kategorisierens, Benennens usw. der Tascheninhalte möglich werden können, muss unser Hauptaugenmerk gelten. <br>
Denn: Unsere Tascheninhalte lassen sich eben nicht so unvermittelt, mit einer bloßen Handbewegung - auf den Tisch legen, wie es T. fordern konnte.<br>
Bei den Tascheninhalten, die er untersuchen, aufschlüsseln wollte, handelte es sich jeweils um reale Dinge, die die Praxis des täglichen Lebens in die Tasche hat wandern lassen. Sie sind in der Tasche als Dinge im Innern genauso wirklich, körperlich wie vor dem Einpacken als äußere Dinge. Sie haben lediglich eine Ortsveränderung mitgemacht, sind dabei vom hellen Diffusen ins dunkle Diffuse geraten. Und der Prozess der Aufklärung ihres jeweiligen Lebens, der Struktur und Bedeutung in die beiden Vorstadien bringen soll, wird die Gegenstände identisch vor sich auf dem Tisch finden: Garnrolle bleibt Garnrolle bleibt Garnrolle, tote Ratte bleibt tote Ratte bleibt tote Ratte (jedenfalls im Prinzip).<br>
Dem Versuch der Aufklärung der Verhältnisse, deren jeweiliger Ausdruck die vorfindlichen konkreten Tascheninhalte sind, müssen wir zunächst die Lösung des folgenden Problems voranstellen: Unsere Tascheninhalte lassen sich nicht mit einer bloßen Hand-bewegung auf den Tisch werfen, ihnen fehlt die real anschauliche Gestalt. Wollen wir im Sinne Tretjakov´s vorgehen, so ist die reale Gegenständlichkeit des Ausgangsmaterials Grundvoraussetzung einer entsprechenden Arbeit. <br>
D.h. in unserem Fall: <br>
Wir müssen die Anschaulichkeit der Tascheninhalte selber produzieren, da sie es per se nicht sind. Der Prozess des Auskramens ist deshalb nur sinnvoll, wenn er zugleich ein Prozess der Vergegenständlichung ist.
=== VON DER TASCHE AUF DEN TISCH. ===
Und da sitze ich nun mit meinem Inneren. Es trifft mich immer wieder unvorbereitet bei seinen Ausbruchversuchen. Ich kann ihm nicht dazu verhelfen, wieder Äußeres zu werden. <br>
Ich bringe es ihm gegenüber zu kaum mehr als zu schmunzeln, zu grübeln, der alten Zeit nachzuhängen oder Geschwätzigkeit an den Tag zu legen, ich schlage die Möglichkeit, mir selbst als einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Menschen zu begegnen, in den Wind. Dabei ist das Innere immer von außen hineingekommen. <br>
Das Äußere wird als Inneres gehortet, in unendlich vielen Bildern mit unendlich vielen Versatzstücken, unendlich vielen Nachbarschaftsverhältnissen.<br>
Es behält sich vor, jedes mit jedem zu verknüpfen, umzuschichten, abzulagern, umzupolen,
auszumisten. <br>Ich kann mir fast ausmalen, wie sehr das Innere dazu taugen könnte, um als das, was ich von der Welt bereits erfahren habe, jenes, was mir noch fehlt, verstehen zu helfen. Dazu sollte ich mein Inneres, diese Ansammlung von Eindrücken, Erinnerungen, Erlebnissen, Erfahrungen und Kenntnissen als einen Vorrat begreifen, mit dem ich im Sinne eines Nachschlagewerkes, einschließlich seiner Verweisungen, umzugehen lernen muss. <br>
Geht es mir doch darum herauszufinden, ob ich mich eigentlich noch selbst verstehe; ob ich mich wiedererkenne in dem, was ich - jetzt, vor einem Jahr, vor Jahrzehnten - gemacht habe, was ich gedacht und getrieben, geglaubt und gepredigt habe.<br>
Aber warum bin ich so zurückhaltend mit mir? <br>
Warum schiele ich immer nur auf das ferne Vorbild, das Leben an der Grenze? ein Leben, das sich durch großartige Taten und Erfindungen auszeichnet, durch Wagemut und Entdeckerfreude, den ganzen Einsatz von Leib und Seele; der Siedler, abgebrannt und ausgeraubt, die besten Freunde vom Sumpffieber weggerafft, fängt jedes mal von vorn an; das große Licht, das niemals so getroffen wird, dass es nicht in der Lage wäre, sich gleich die entsprechenden Gedanken zusammenzureimen, in Literatur; die öffentliche Person, die selbst nach Hinschlachtung der ganzen Sippe nicht davon abzubringen ist, verbliebenes Leben und Geld in Acapulco zu verjuxen? <br>
Ah! Solche Menschen können aus ihrem Leben erzählen, und es würde sich lohnen zuzuhören. <br>
<big>Aber man selbst?</big><br>
Worauf sollte man denn zurückkommen, wer sollte einem zuhören? einer bloß mittelmäßigen Existenz mit einer kaum von einander zu unterscheidenden Nummernabfolge von Erfahrungen: kein einziger Höhepunkt weit und breit, kein Schicksalsschlag, kein Hauptgewinn.
Alles Durchschnitt, aber dafür reichlich.<br>
Das Leben an der Grenze ist eindeutig. Eines ergibt sich aus dem anderen, der rote Faden durchzieht alle Bereiche der Existenz - auch wenn's im Grunde ein Hundeleben ist.<br>
Dem Leben im Mittelmaß fehlt dagegen die zwangsläufige Konsequenz. Der größere Zu-sammenhang hält sich verborgen. Die Fragen, die in einem solchen Leben zu beantwor-ten sind, stellen sich nicht mit dem Wechsel der Jahreszeiten, dem Zug der Vögel ein. Die müssen erst einmal herausgekramt und auf den Tisch gelegt werden.<br>
Zu solchen Fragen vorzudringen ist das Kernstück eines Lebens im Mittelmaß. Die Arbeit an deren praktischer Beantwortung, für die ich nur mein Alltagswissen anzubieten habe, kann sich zur Richtschnur entwickeln für alles, was ich tue. <br>
Dem Leben an der Grenze das Leben in der Tasche entgegenhalten! <br>
Nur wer sich auferlegt, sich selbst gegenüberzutreten und sich zum Gegenstand der Be-trachtung zu machen, kann Richtung in sein Leben bringen.<br>
=== DEINE KUNST, DAS UNBEKANNTE WESEN. ===
Schwieriger wird es allerdings, wenn mir da etwas "Fremdländisches" begegnet. <br>
Das Problem stellt sich eigentlich nur deswegen ein, weil ich dem "Fremdländischen" ansehen kann, dass es etwas zu bedeuten hat, und ich kann die Bedeutung nicht herausbekommen.<br>
Ich kann mit ihm so auf Anhieb einfach nichts anfangen und eigentlich würde ich‘s gern.<br>
=== WAS IST ZU TUN? ===
Wir verständigen uns über die unterschiedlichen Versuche, das Ganze zu verstehen, aufzuschlüsseln.<br>
Und während wir alle aus unseren Erinnerungen hervorkramen, sie aufzeichnen, sie miteinander vergleichen und miteinander in Beziehung zu setzen suchen (am besten, das Vorhaben wird gleich ein bisschen organisiert), wird uns klar, dass wir auf diesem Wege nicht nur das Unbekannte da drüben verstehen können, wohlgemerkt: in unserem Sinne, sondern auch und vor allem uns selbst! <br>
Das heißt: Wir müssen, um uns mit uns selbst beschäftigen zu können, aus den gewohnten Zusammenhängen heraustreten. Das ist das Ungewöhnliche: Wir müssen uns selbst gegenübertreten. <br>
Wir müssen uns selbst zusehen, wie wir leben, wie wir erfahren, was wir erfahren, was wir tun, was wir wollen. Wir müssen uns sozusagen ans andere Ufer projizieren.<br>
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Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diese Beobachtung der Welt, in die man gehört, sowie die der eigenen Person, einzuüben und zu praktizieren. <br>
Wir wollen uns hierauf die Kunst beziehen, auf das, was vom anderen Ufer, am Nagel hängend, auf dem Sockel stehend, in den Sand gezeichnet, in den Stein geritzt zu uns herübergrüßt. Wenn wir sie in Anspruch nehmen, entheben wir uns der Schwierigkeit, zwischen all den anderen Dingen, die wir auch nicht verstehen und die dabei doch so vielversprechend anmuten, eine Auswahl zu treffen, denn die müssen wir dann wieder mit tausend Gründen rechtfertigen. <br>
Bei der Kunst ist das eben klar: Mit ihr kann man sich getrost beschäftigen, denn da sei was dran, so wird uns seit Jahrhunderten versichert.
Als Beweis lässt man uns dann alle Kultusminister und die Senatoren für Wissenschaft und Kunst hochleben.<br>
Dahas Waaasser war viehiel zuhu tief . . .<br>
=== STROMABWÄRTS. ===
Der Blick zum anderen Ufer hinüber legt es nahe, nach längerer und intensiver Betrachtung dessen, was dort nach Bedeutung ruft, eine Unterscheidung zu treffen. Diese Unterscheidung betrifft das Beziehungsgefüge der Erinnerungsbilder, die in uns aufgerufen und miteinander in Verbindung gebracht worden sind. Es scheint so, als wäre es sinnvoll, zwei grundsätzliche Möglichkeiten, in denen sich <big>Assoziationen</big> im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Kunstwerken einstellen, von einander zu trennen.<br>
Es handelt sich einmal darum, dass die <big>Assoziationen</big> sich auf dem schnellsten Wege vom Ausgangspunkt, dem Kunstwerk, entfernen. Es hat den Anschein, als würden sie den Bedeutungshof, mit dem ein Kunstwerk sich umgibt, lediglich als ersten Veranlasser benötigen, um sodann in einer fortlaufenden Kette oder gar wie im Schneeballsystem sich an den bereits gebildeten Assoziationen weiter zu entwickeln. Sie haben vollauf mit sich selbst zu tun, vermögen anscheinend viel anregendere, weitreichendere Bedeutung zu erzeugen. Dabei lassen sie das Kunstwerk weit hinter sich, es macht, so von unserem Ufer aus betrachtet, eine recht kümmerliche Figur und könnte fast zum Strandgut gezählt werden: irgendwo, irgendwann, irgendwie, irgendwas.<br>
Bei der zweiten Gruppe von <big>Assoziationen</big> dagegen haben wir den Eindruck, als würden sie sich nicht gradlinig aus dem Bedeutungshof entfernen, sondern als würden sie sich auf konzentrischen Bahnen um das Kunstwerk lagern, in mehr oder weniger engen Abständen zum Kunstwerk. Wir vermuten, dass die Assoziationen das Sinnganze beschreiben, das sich ähnlich den Wellen, die ein ins Wasser geworfener Stein erzeugt, ausbreitet. Dabei erschließen sie immer neue, in dieses Kunstwerk zurückführende Perspektiven. Wir gewinnen schließlich den Eindruck, als würde die Summe all der auf das Kunstwerk gerichteten Assoziationen nicht in dem Maße auf einen Bedeutungshorizont verweisen, wie das Kunstwerk selbst es vermag. <br>
Das Kunstwerk verdient seinen Namen zu Recht: kein Strandgut.<br>
Das Verfahren, mit dem wir unser Verstehen-Wollen von Kunstwerken vortragen, kann die beiden Typen von Assoziationsbildungen nicht in ihrer Struktur wiedergeben. Sie lassen sich dafür in den jeweiligen Sinnzusammenhängen ausmachen, und zwar in der Art und Weise, wie dort Sinn zusammenhängt und auseinander hervorgeht.<br>
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Weiter: <br>
Durch das Verknüpfen der einzelnen Bilder, denen mit den Texten und den Ge-neralthemen Entsprechungen an die Seite gestellt werden, wird unausgesprochen Sinn konstituiert. Die Mehrdeutigkeit, die in allen am Darstellungsprozess beteiligten Elementen angelegt ist, wird dadurch ausgerichtet, dass die zusammengehörigen Elemente in ein Überschneidungsfeld hineinmanövriert werden. Der Erkenntnisvorgang orientiert sich an eben dieser Schnittmenge. <br>
Sie markiert den jeweiligen Sinnzusammenhang, er muss von jedem Betrachter aufs Neue aktualisiert werden.<br>
=== STROMAUFWÄRTS. ===
Tja. <br>
Und dann nähme vielleicht das Publikum tatsächlich mal die Kunst in die Hand.<br>
März 1974<br>
Juni 1977 Achim Lipp<br>