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Die Kunst in Bildern zu denken

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Wir müssen die Anschaulichkeit der Tascheninhalte selber produzieren, da sie es per se nicht sind. Der Prozess des Auskramens ist deshalb nur sinnvoll, wenn er zugleich ein Prozess der Vergegenständlichung ist.
=== VON DER TASCHE AUF DEN TISCH. ===
Ich wandere durch die Lüneburger Heide. Da weht plötzlich, unvermittelt, ein ganz be-stimmter Heidegeruch in meine Nase. Ein Geruch, der mehr ist als typischer Heidege-ruch, ein Geruch, der zu mehr als der Feststellung taugt: Heide ist doch eine wundervolle Landschaft. Es ist ein Geruch, den ich wiedererkenne als einen Geruch, an dem ganz viel von mir dran hängt. Es ist ein Geruch, den ich seit über zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder rieche - und den ich sofort mit unzähligen Elementen, die zu dem "alten" Geruch gehören, in Verbindung setze. Es ist fast so, als würde ein genau abgrenzbares Stück meiner Lebensgeschichte vor meinen Augen auftauchen (in Form eines kompletten Sets, dabei aber alle Teile, Dinge, Personen, Ereignisse, Taten gleichzeitig und ohne Reihenfolge). Plötzlich ist alles wieder da, zum Greifen nahe, zum ersten Male - und ist sofort wieder verschwunden, weg. Zurück bleibt die Gewissheit, dass da etwas ist, und zwar eine Tasche mit ganz viel drin; und dass es sich vielleicht lohnte, sie auszupacken - mit System.<br>
Ich bringe es ihm gegenüber zu kaum mehr als zu schmunzeln, zu grübeln, der alten Zeit nachzuhängen oder Geschwätzigkeit an den Tag zu legen, ich schlage die Möglichkeit, mir selbst als einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Menschen zu begegnen, in den Wind. Dabei ist das Innere immer von außen hineingekommen. Das Äußere wird als Inneres gehortet, in unendlich vielen Bildern mit unendlich vielen Versatzstücken, unendlich vielen Nachbarschaftsverhältnissen.Es behält sich vor, jedes mit jedem zu verknüpfen, umzuschichten, abzulagern, umzupo-len,auszumisten. Ich kann mir fast ausmalen, wie sehr das Innere dazu taugen könnte, um als das, was ich von der Welt bereits erfahren habe, jenes, was mir noch fehlt, verstehen zu helfen. Dazu sollte ich mein Inneres, diese Ansammlung von Eindrücken, Erinnerun-gen, Erlebnissen, Erfahrungen und Kenntnissen als einen Vorrat begreifen, mit dem ich im Sinne eines Nachschlagewerkes, einschließlich seiner Verweisungen, umzugehen lernen muss. <br>
Geht es mir doch darum herauszufindenDas Äußere wird als Inneres gehortet, ob ich mich eigentlich noch selbst verstehe; ob ich mich wiedererkenne in demunendlich vielen Bildern mit unendlich vielen Versatzstücken, was ich - jetzt, vor einem Jahr, vor Jahrzehnten - ge-macht habe, was ich gedacht und getrieben, geglaubt und gepredigt habeunendlich vielen Nachbarschaftsverhältnissen.<br>
Aber warum bin ich so zurückhaltend Es behält sich vor, jedes mit mir? Warum schiele ich immer nur auf das ferne Vorbild, das Leben an der Grenze? ein Leben, das sich durch großartige Taten und Erfindungen auszeichnetjedem zu verknüpfen, durch Wagemut und Ent-deckerfreudeumzuschichten, den ganzen Einsatz von Leib und Seele; der Siedlerabzulagern, abgebrannt und aus-geraubtumzupolen, die besten Freunde vom Sumpffieber weggerafftauszumisten. Ich kann mir fast ausmalen, fängt jedes mal von vorn an; wie sehr das große LichtInnere dazu taugen könnte, um als das niemals so getroffen wird, dass es nicht in was ich von der Lage wäreWelt bereits erfahren habe, sich gleich die entsprechenden Gedanken zusammenzureimenjenes, in Literatur; die öffentliche Personwas mir noch fehlt, die selbst nach Hinschlachtung der ganzen Sippe nicht davon abzubringen ist, verblie-benes Leben und Geld in Acapulco verstehen zu verjuxen? Ah! Solche Menschen können aus ihrem Leben erzählen, und es würde sich lohnen zu-zuhörenhelfen. Aber man selbst?Worauf Dazu sollte man denn zurückkommenich mein Inneres, wer sollte einem zuhören? einer bloß mittel-mäßigen Existenz mit einer kaum von einander zu unterscheidenden Nummernabfolge diese Ansammlung von Eindrücken, Erinnerungen, Erlebnissen, Erfahrungen: kein einziger Höhepunkt weit und breitKenntnissen als einen Vorrat begreifen, kein Schicksalsschlagmit dem ich im Sinne eines Nachschlagewerkes, kein Hauptgewinn. Alles Durchschnitteinschließlich seiner Verweisungen, aber dafür reichlichumzugehen lernen muss.<br>
Das Leben an der Grenze ist eindeutig. Eines ergibt sich aus dem anderen, der rote Fa-den durchzieht alle Bereiche der Existenz - auch wenn's im Grunde ein Hundeleben ist.
Dem Leben im Mittelmaß fehlt dagegen die zwangsläufige Konsequenz. Der größere Zu-sammenhang hält sich verborgen. Die FragenGeht es mir doch darum herauszufinden, die ob ich mich eigentlich noch selbst verstehe; ob ich mich wiedererkenne in einem solchen Leben zu beantwordem, was ich -ten sindjetzt, stellen sich nicht mit dem Wechsel der Jahreszeitenvor einem Jahr, dem Zug der Vögel ein. Die müssen erst einmal herausgekramt und auf den Tisch gelegt werden.Zu solchen Fragen vorzudringen ist das Kernstück eines Lebens im Mittelmaß. Die Arvor Jahrzehnten -beit an deren praktischer Beantwortung, für die ich nur mein Alltagswissen anzubieten gemacht habe, kann sich zur Richtschnur entwickeln für alles, was ich tuegedacht und getrieben, geglaubt und gepredigt habe. <br>
Dem Leben an der Grenze das Leben in der Tasche entgegenhalten!
Nur wer sich auferlegt, sich selbst gegenüberzutreten und sich zum Gegenstand der Be-trachtung zu machen, kann Richtung in sein Leben bringen. Aber warum bin ich so zurückhaltend mit mir? <br>
Sich Warum schiele ich immer nur auf das ferne Vorbild, das Leben an der Grenze? ein Leben, das sich durch großartige Taten und Erfindungen auszeichnet, durch Wagemut und Entdeckerfreude, den ganzen Einsatz von Leib und Seele; der Siedler, abgebrannt und ausgeraubt, die besten Freunde vom Sumpffieber weggerafft, fängt jedes mal von vorn an; das große Licht, das niemals so getroffen wird, dass es nicht in der Lage wäre, sich gleich die entsprechenden Gedanken zusammenzureimen, in Literatur; die öffentliche Person, die selbst gegenübertreten heißt: Das Innere nach außen kehren.Hinschlachtung der ganzen Sippe nicht davon abzubringen ist, verbliebenes Leben und Geld in Acapulco zu verjuxen? <br>
DEINE KUNST, DAS UNBEKANNTE WESEN. Heinrich Schliemann ist nun schon seit dem April des Jahres 1870 zusammen mit seiner jungen griechischen Frau und 1OO Arbeitern dabei, das homerische Troja auszugraben (wobei er später insgesamt neun versunkene Städte findet). Da entdeckt er am 14. Juni 1873, einen Tag vor dem vorläufig letzten Grabungstag, das, was seine Arbeit krönen sollte: Er entdeckt einen unermesslichen Goldschatz, den sagenhaften Schatz des Pria-mos, wie er irrtümlich annimmt.Nachdem das Ehepaar den Fund heimlich in seine Holzhütte gebracht und auf die rohe Tischplatte geschüttet hat, geschieht folgendes: Einer der beiden, so berichtet uns C.W. Ceram, wohl Schliemann selbst, kombiniert:Vermutlich hat jemand Ah! Solche Menschen können aus der Familie des Priamos den Schatz in aller Eile in eine Kiste gepackt, diese fortgetragen, ohne Zeit zu haben, den Schlüssel herauszuziehen, Kiste im Stich lassen müssen, die sogleich fünf oder sechs Fuß hoch mit der roten Asche oder den Steinen des danebenstehenden königlichen Palastes überschüttet wurde.Und Schliemann, der Phantast, nimmt ein Paar der Ohrgehängeihrem Leben erzählen, nimmt einen Halsschmuck und legt alles seiner jungen Frau an — dreitausendjährigen Schmuck für die zwanzigjäh-rige Griechin! Er starrt sie an. ,,Helena!“ flüstert eres würde sich lohnen zuzuhören.<br>
<big>Aber man selbst?</big><br> Worauf sollte man denn zurückkommen, wer sollte einem zuhören? einer bloß mittelmäßigen Existenz mit einer kaum von einander zu unterscheidenden Nummernabfolge von Erfahrungen: kein einziger Höhepunkt weit und breit, kein Schicksalsschlag, kein Hauptgewinn. Alles Durchschnitt, aber dafür reichlich.<br>  Das Leben an der Grenze ist eindeutig. Eines ergibt sich aus dem anderen, der rote Faden durchzieht alle Bereiche der Existenz - auch wenn's im Grunde ein Hundeleben ist.<br>  Dem Leben im Mittelmaß fehlt dagegen die zwangsläufige Konsequenz. Der größere Zu-sammenhang hält sich verborgen. Die Fragen, die in einem solchen Leben zu beantwor-ten sind, stellen sich nicht mit dem Wechsel der Jahreszeiten, dem Zug der Vögel ein. Die müssen erst einmal herausgekramt und auf den Tisch gelegt werden.<br> Zu solchen Fragen vorzudringen ist das Kernstück eines Lebens im Mittelmaß. Die Arbeit an deren praktischer Beantwortung, für die ich nur mein Alltagswissen anzubieten habe, kann sich zur Richtschnur entwickeln für alles, was ich tue. <br>  Dem Leben an der Grenze das Leben in der Tasche entgegenhalten! <br>  Nur wer sich auferlegt, sich selbst gegenüberzutreten und sich zum Gegenstand der Be-trachtung zu machen, kann Richtung in sein Leben bringen.<br>  Sich selbst gegenübertreten heißt: Das Innere nach außen kehren.<br> === DEINE KUNST, DAS UNBEKANNTE WESEN. === Heinrich Schliemann ist nun schon seit dem April des Jahres 1870 zusammen mit seiner jungen griechischen Frau und 1OO Arbeitern dabei, das homerische Troja auszugraben (wobei er später insgesamt neun versunkene Städte findet). Da entdeckt er am 14. Juni 1873, einen Tag vor dem vorläufig letzten Grabungstag, das, was seine Arbeit krönen sollte: Er entdeckt einen unermesslichen Goldschatz, den sagenhaften Schatz des Priamos, wie er irrtümlich annimmt.<br> Nachdem das Ehepaar den Fund heimlich in seine Holzhütte gebracht und auf die rohe Tischplatte geschüttet hat, geschieht folgendes: Einer der beiden, so berichtet uns C.W. Ceram, wohl Schliemann selbst, kombiniert:<br> Vermutlich hat jemand aus der Familie des Priamos den Schatz in aller Eile in eine Kiste gepackt, diese fortgetragen, ohne Zeit zu haben, den Schlüssel herauszuziehen, ist aber auf der Mauer von Feindeshand oder von Feuer erreicht worden und hat die Kiste im Stich lassen müssen, die sogleich fünf oder sechs Fuß hoch mit der roten Asche oder den Steinen des danebenstehenden königlichen Palastes überschüttet wurde.<br> Und Schliemann, der Phantast, nimmt ein Paar der Ohrgehänge, nimmt einen Halsschmuck und legt alles seiner jungen Frau an — dreitausendjährigen Schmuck für die zwanzigjährige Griechin! Er starrt sie an. "Helena" flüstert er.<br>  === AM ANDEREN UFER. === Wir sind bei allem, was uns begegnet oder widerfährt, auf der Suche nach Sinn. <br>Das muss durchaus nicht vorsätzlich geschehen. Im Allgemeinen wird die Suche unter-schwellig betrieben, vor allem dann - und das ist der Fall, an den wir uns gewöhnt haben -, wenn es keinen Widerspruch gibt zwischen dem, was da nach Sinn ruft und dem, der da mit Sinn besetzt. <br>Beispiel: Ein Lastwagen lädt auf einem unbebauten Nachbargrund-stück Nachbargrundstück eine Ladung Ziegelsteine ab. - Da wird man ein Haus bauen, und in diesem Haus werden Leute wohnen. Vielleicht die Müllers? Die Sache ist ziemlich einfach. Auch wenn sich später herausstellt, dass in dem Haus gar nicht gewohnt, sondern büromäßig gear-beitet gearbeitet werden soll. - Liegt ja durchaus im Bereich der Möglichkeiten und kann man nicht unbedingt vorher wissen.<br> Das, was um mich her geschieht, und wenn's nur herumliegt, hat die Eigenschaft, mich auf mehr zu verweisen als was es in seinem bloßen Vorhandensein ist. Es fällt mir in den meisten Fällen nicht sonderlich schwer (natürlich muss ich mir erst meine Gedanken drüber machen, wenn ich’s in Worte fassen soll) abzuschätzen, wo etwas herkommt und wo es hingeht bzw. wo etwas anfangt anfängt und wo es aufhört. Das meiste, was sich in meinem Umkreis ereignet, lässt sich ziemlich unproblematisch unterbringen, d.h. lässt sich be-stimmtenbestimmten, in sich sinnvollen Zusammenhängen meines Lebens zuordnen.<br> Schwieriger wird es allerdings, wenn mir da etwas ,,Fremdländisches“ "Fremdländisches" begegnet. <br> Das Problem stellt sich eigentlich nur deswegen ein, weil ich dem ,,Fremdländischen“ "Fremdländischen" ansehen kann, dass es etwas zu bedeuten hat, und ich kann die Bedeutung nicht herausbekommen.<br> Ich kann mit ihm so auf Anhieb einfach nichts anfangen und eigentlich würde ich‘s gern.<br>  === Was ist zu tun? ===Ich betrachte das Unbekannte erst einmal von allen Seiten, so gut es geht. Es bieten sich schon einige Gesichtspunkte an, die mir einfallen und die ich ihm zuordnen kann. Und es werden schon mehr. Diese Gesichtspunkte ergeben sich dadurch, dass mich bestimmte Momente an diesem "Fremdländischen" an durchaus Bekanntes erinnern. Dabei kann es natürlich sein - und das ist naheliegend -, dass die einzelnen Aspekte, auf die ich bei der Beschäftigung mit dem Fremden stoße, aus den unterschiedlichsten Gegenden meines "heimatlichen" Erfahrungsbereichs stammen. Und mit einem Mal stehen diese unterschiedlichen Erfahrungsstücke, die in der Praxis, aus der sie kommen, nicht das Geringste miteinander zu tun hatten, miteinander in Beziehung und sollen helfen, eine Sache, die nicht aus sich heraus zu verstehen ist, nun sinnvoll zu erschließen. <br> Während der Forschungsarbeit verknüpfen sich die einzelnen Aspekte allmählich zu einem Netz von Beziehungen, und es wird deutlich, dass ich das Ganze nicht als Ganzes erschließen kann, sondern nur durch ein Gefüge von sinnvollen Beziehungen, in das es mir zerfällt. In diesem Netz sind die unterschiedlichsten Sinnmomente in engster Nachbarschaft miteinander.<br> Einen Rückhalt dafür, dass ich mit diesem Netz auch tatsächlich etwas gefangen habe und nicht nur einen alten Autoreifen, finde ich auf zweierlei Art. Einmal so, dass mir der gesamte Sinnzusammenhang, in dem mein bruchstückhafter Komplex aufgeht, durch die, die ihn provoziert haben, selber hergestellt wird, sei es durch die aktuelle Praxis oder durch einen Dolmetscher, vielleicht sogar in Gestalt des Stammesphilosophen.<br> Fehlt es jedoch an einer Möglichkeit rückzufragen - sei es, weil es überhaupt niemanden gibt, der Auskunft geben könnte, sei es, dass die Auskunft aus Unwillen verweigert wird, sei es, dass sie aus Unfähigkeit verweigert werden muss oder sei es, dass sie in einer Form vorgetragen wird, die als erklärende so rätselhaft ist wie das, wonach gefragt wurde - so bleibt uns nur: Ich muss mich an das halten, was ich selbst herausbekommen habe. Ich muss bei meinesgleichen nachfragen. Bei den Individuen, die mit mir am selben Ufer stehen und ebenso Ausschau halten nach dem unbekannten Ganzen, das da drüben am anderen Ufer liegt. <br> Wir verständigen uns über die unterschiedlichen Versuche, das Ganze zu verstehen, aufzuschlüsseln.<br> Und während wir alle aus unseren Erinnerungen hervorkramen, sie aufzeichnen, sie miteinander vergleichen und miteinander in Beziehung zu setzen suchen (am besten, das Vorhaben wird gleich ein bisschen organisiert), wird uns klar, dass wir auf diesem Wege nicht nur das Unbekannte da drüben verstehen können, wohlgemerkt: in unserem Sinne, sondern auch und vor allem uns selbst! <br> === Hier und nicht da drüben! ===Denn wir beschäftigen uns mit Erfahrungen, die wir während unseres bisherigen Lebens als Mitglieder von bestimmten sozialen und historischen Zusammenhängen gemacht und gesammelt haben. In diese Erfahrungen sind die Bedingungen unseres gesellschaftlichen Lebens eingegangen. <br> Wenn es uns nun gelänge, uns unsere eigenen Erfahrungen noch einmal vorzuführen und uns Gedanken über sie zu machen, machten wir uns nicht zugleich Gedanken über die Bedingungen unseres eigenen Lebens? <br> Das heißt: Wir müssen, um uns mit uns selbst beschäftigen zu können, aus den gewohnten Zusammenhängen heraustreten. Das ist das Ungewöhnliche: Wir müssen uns selbst gegenübertreten. <br> Wir müssen uns selbst zusehen, wie wir leben, wie wir erfahren, was wir erfahren, was wir tun, was wir wollen. Wir müssen uns sozusagen ans andere Ufer projizieren.<br><br> Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diese Beobachtung der Welt, in die man gehört, sowie die der eigenen Person, einzuüben und zu praktizieren. <br> Wir wollen uns hierauf die Kunst beziehen, auf das, was vom anderen Ufer, am Nagel hängend, auf dem Sockel stehend, in den Sand gezeichnet, in den Stein geritzt zu uns herübergrüßt. Wenn wir sie in Anspruch nehmen, entheben wir uns der Schwierigkeit, zwischen all den anderen Dingen, die wir auch nicht verstehen und die dabei doch so vielversprechend anmuten, eine Auswahl zu treffen, denn die müssen wir dann wieder mit tausend Gründen rechtfertigen. <br>
Was ist zu tun?
Ich betrachte das Unbekannte erst einmal von allen Seiten, so gut es geht. Es bieten sich schon einige Gesichtspunkte an, die mir einfallen und die ich ihm zuordnen kann. Und es werden schon mehr. Diese Gesichtspunkte ergeben sich dadurch, dass mich bestimmte Momente an diesem ,,Fremdländischen“ an durchaus Bekanntes erinnern. Dabei kann es natürlich sein - und das ist naheliegend -, dass die einzelnen Aspekte, auf die ich bei der Beschäftigung mit dem Fremden stoße, aus den unterschiedlichsten Gegenden mei-nes ,,heimatlichen“ Erfahrungsbereichs stammen. Und mit einem Mal stehen diese un-terschiedlichen Erfahrungsstücke, die in der Praxis, aus der sie kommen, nicht das Ge-ringste miteinander zu tun hatten, miteinander in Beziehung und sollen helfen, eine Sa-che, die nicht aus sich heraus zu verstehen ist, nun sinnvoll zu erschließen.
Während der Forschungsarbeit verknüpfen sich die einzelnen Aspekte allmählich zu einem Netz von Beziehungen, und es wird deutlich, dass ich das Ganze nicht als Ganzes erschließen kann, sondern nur durch ein Gefüge von sinnvollen Beziehungen, in das es mir zerfällt. In diesem Netz sind die unterschiedlichsten Sinnmomente in engster Nach-barschaft miteinander.
Einen Rückhalt dafür, dass ich mit diesem Netz auch tatsächlich etwas gefangen habe und nicht nur einen alten Autoreifen, finde ich auf zweierlei Art. Einmal so, dass mir der gesamte Sinnzusammenhang, in dem mein bruchstückhafter Komplex aufgeht, durch die, die ihn provoziert haben, selber hergestellt wird, sei es durch die aktuelle Praxis oder durch einen Dolmetscher, vielleicht sogar in Gestalt des Stammesphilosophen.
Fehlt es jedoch an einer Möglichkeit rückzufragen - sei es, weil es überhaupt niemanden gibt, der Auskunft geben könnte, sei es, dass die Auskunft aus Unwillen verweigert wird, sei es, dass sie aus Unfähigkeit verweigert werden muss oder sei es, dass sie in einer Form vorgetragen wird, die als erklärende so rätselhaft ist wie das, wonach gefragt wurde - so bleibt uns nur: Ich muss mich an das halten, was ich selbst herausbekommen habe. Ich muss bei meinesgleichen nachfragen. Bei den Individuen, die mit mir am sel-ben Ufer stehen und ebenso Ausschau halten nach dem unbekannten Ganzen, das da drüben am anderen Ufer liegt.
Wir verständigen uns über die unterschiedlichen Versuche, das Ganze zu verstehen, auf-zuschlüsseln.
Und während wir alle aus unseren Erinnerungen hervorkramen, sie aufzeichnen, sie miteinander vergleichen und miteinander in Beziehung zu setzen suchen (am besten, das Vorhaben wird gleich ein bisschen organisiert), wird uns klar, dass wir auf diesem Wege nicht nur das Unbekannte da drüben verstehen können, wohlgemerkt: in unserem Sinne, sondern auch und vor allem uns selbst!
Hier und nicht da drüben!
Denn wir beschäftigen uns mit Erfahrungen, die wir während unseres bisherigen Lebens als Mitglieder von bestimmten sozialen und historischen Zusammenhängen gemacht und gesammelt haben. In diese Erfahrungen sind die Bedingungen unseres gesellschaft-lichen Lebens eingegangen.
Wenn es uns nun gelänge, uns unsere eigenen Erfahrungen noch einmal vorzuführen und uns Gedanken über sie zu machen, machten wir uns nicht zugleich Gedanken über die Bedingungen unseres eigenen Lebens?
Das heißt: Wir müssen, um uns mit uns selbst beschäftigen zu können, aus den gewohn-ten Zusammenhangen heraustreten. Das ist das Ungewöhnliche: Wir müssen uns selbst gegenübertreten.
Wir müssen uns selbst zusehen, wie wir leben, wie wir erfahren, was wir erfahren, was wir tun, was wir wollen. Wir müssen uns sozusagen ans andere Ufer projizieren.
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diese Beobachtung der Welt, in die man gehört, sowie die der eigenen Person, einzuüben und zu praktizieren.
Wir wollen uns hierauf die Kunst beziehen, auf das, was vom anderen Ufer, am Nagel hangend, auf dem Sockel stehend, in den Sand gezeichnet, in den Stein geritzt zu uns herübergrüßt. Wenn wir sie in Anspruch nehmen, entheben wir uns der Schwierigkeit, zwischen all den anderen Dingen, die wir auch nicht verstehen und die dabei doch so vielversprechend anmuten, eine Auswahl zu treffen, denn die müssen wir dann wieder mit tausend Gründen rechtfertigen.
Bei der Kunst ist das eben klar: Mit ihr kann man sich getrost beschäftigen, denn da sei was dran, so wird uns seit Jahrhunderten versichert.
Als Beweis lässt man uns dann alle Kultusminister und die Senatoren für Wissenschaft und Kunst hochleben.<br>  Dahas Waaasser war viehiel zuhu tief . . .<br>  === STROMABWÄRTS. === Der Blick zum anderen Ufer hinüber legt es nahe, nach längerer und intensiver Betrachtung dessen, was dort nach Bedeutung ruft, eine Unterscheidung zu treffen. Diese Unterscheidung betrifft das Beziehungsgefüge der Erinnerungsbilder, die in uns aufgerufen und miteinander in Verbindung gebracht worden sind. Es scheint so, als wäre es sinnvoll, zwei grundsätzliche Möglichkeiten, in denen sich <big>Assoziationen</big> im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Kunstwerken einstellen, von einander zu trennen.<br>  Es handelt sich einmal darum, dass die <big>Assoziationen</big> sich auf dem schnellsten Wege vom Ausgangspunkt, dem Kunstwerk, entfernen. Es hat den Anschein, als würden sie den Bedeutungshof, mit dem ein Kunstwerk sich umgibt, lediglich als ersten Veranlasser benötigen, um sodann in einer fortlaufenden Kette oder gar wie im Schneeballsystem sich an den bereits gebildeten Assoziationen weiter zu entwickeln. Sie haben vollauf mit sich selbst zu tun, vermögen anscheinend viel anregendere, weitreichendere Bedeutung zu erzeugen. Dabei lassen sie das Kunstwerk weit hinter sich, es macht, so von unserem Ufer aus betrachtet, eine recht kümmerliche Figur und könnte fast zum Strandgut gezählt werden: irgendwo, irgendwann, irgendwie, irgendwas.<br>  Bei der zweiten Gruppe von <big>Assoziationen</big> dagegen haben wir den Eindruck, als würden sie sich nicht gradlinig aus dem Bedeutungshof entfernen, sondern als würden sie sich auf konzentrischen Bahnen um das Kunstwerk lagern, in mehr oder weniger engen Abständen zum Kunstwerk. Wir vermuten, dass die Assoziationen das Sinnganze beschreiben, das sich ähnlich den Wellen, die ein ins Wasser geworfener Stein erzeugt, ausbreitet. Dabei erschließen sie immer neue, in dieses Kunstwerk zurückführende Perspektiven. Wir gewinnen schließlich den Eindruck, als würde die Summe all der auf das Kunstwerk gerichteten Assoziationen nicht in dem Maße auf einen Bedeutungshorizont verweisen, wie das Kunstwerk selbst es vermag. <br>Das Kunstwerk verdient seinen Namen zu Recht: kein Strandgut.<br> Das Verfahren, mit dem wir unser Verstehen-Wollen von Kunstwerken vortragen, kann die beiden Typen von Assoziationsbildungen nicht in ihrer Struktur wiedergeben. Sie lassen sich dafür in den jeweiligen Sinnzusammenhängen ausmachen, und zwar in der Art und Weise, wie dort Sinn zusammenhängt und auseinander hervorgeht.<br><br> Weiter: <br>Durch das Verknüpfen der einzelnen Bilder, denen mit den Texten und den Ge-neralthemen Entsprechungen an die Seite gestellt werden, wird unausgesprochen Sinn konstituiert. Die Mehrdeutigkeit, die in allen am Darstellungsprozess beteiligten Elementen angelegt ist, wird dadurch ausgerichtet, dass die zusammengehörigen Elemente in ein Überschneidungsfeld hineinmanövriert werden. Der Erkenntnisvorgang orientiert sich an eben dieser Schnittmenge. <br> Sie markiert den jeweiligen Sinnzusammenhang, er muss von jedem Betrachter aufs Neue aktualisiert werden.<br>  === STROMAUFWÄRTS. === Es wäre durch weitere Versuche zu überprüfen, ob die von uns getroffene Unterscheidung von zwei grundsätzlich verschiedenen Assoziationsabläufen verbindlichen Charakter gewinnen kann. Von hier aus wäre dann in die Struktur der Kunstwerke einzudringen, wobei sich herausstellen könnte, dass zwischen ihr und dem, was die Assoziationsbildung und den jeweils damit verbundenen Prozess provoziert, ein unmittelbarer Zusammenhang besteht.<br>
Dahas Waaasser war viehiel zuhu tief . Wenn wir fortgesetzt unseren Anspruch an die Kunst vortragen, mit ihrer Hilfe auf der Ebene der bildhaften, umgangssprachlichen Assoziationsbildung Sinnzusammenhänge zu erfahren und von ihr verlangen, dass sie aus sich heraus das jeweilige Unternehmen sinnvoll begrenzen kann - damit die Geschichte nicht uferlos weitergeht -, so sollten wir in absehbarer Zeit durchaus in der Lage sein, sie in ihren einzelnen Erscheinungsformen begründet beurteilen zu können. Wir sollten dann in der Lage sein, einzelnen Kunstwerken diese Fähigkeiten zu- oder absprechen zu können.<br>
STROMABWÄRTS. Der Blick zum anderen Ufer hinüber legt es naheDas würde bedeuten, nach längerer und intensiver Betrach-tung dessendass wir, was dort nach Bedeutung ruftim Verfolg unserer Interessen, eine Unterscheidung zu treffen. Diese Unter-scheidung betrifft das Beziehungsgefüge der Erinnerungsbilder, die in uns aufgerufen von guten und miteinander in Verbindung gebracht worden sind. Es scheint so, als wäre es sinnvoll, zwei grundsätzliche Möglichkeiten, in denen sich Assoziationen im Zusammenhang mit der Beschäftigung von schlechten Kunstwerken einstellen, von einander zu trennensprechen könnten.<br>
Es handelt sich einmal darum, dass die Assoziationen sich auf dem schnellsten Wege vom Ausgangspunkt, dem Kunstwerk, entfernen. Es hat den Anschein, als würden sie den Bedeutungshof, mit dem ein Kunstwerk sich umgibt, lediglich als ersten Veranlasser benötigen, um sodann in einer fortlaufenden Kette oder gar wie im Schneeballsystem sich an den bereits gebildeten Assoziationen weiter zu entwickeln. Sie haben vollauf mit sich selbst zu tun, vermögen anscheinend viel anregendere, weitreichendere Bedeutung zu erzeugen. Dabei lassen sie das Kunstwerk weit hinter sich, es macht, so von unserem Ufer aus betrachtet, eine recht kümmerliche Figur und könnte fast zum Strandgut ge-zählt werden: irgendwo, irgendwann, irgendwie, irgendwasTja.<br>
Bei der zweiten Gruppe von Assoziationen dagegen haben wir den Eindruck, als würden sie sich nicht gradlinig aus dem Bedeutungshof entfernen, sondern als würden sie sich auf konzentrischen Bahnen um Und dann nähme vielleicht das Kunstwerk lagern, in mehr oder weniger engen Ab-ständen zum Kunstwerk. Wir vermuten, dass die Assoziationen das Sinnganze beschrei-ben, das sich ähnlich den Wellen, Publikum tatsächlich mal die ein ins Wasser geworfener Stein erzeugt, ausbreitet. Dabei erschließen sie immer neue, Kunst in dieses Kunstwerk zurückführende Perspektiven. Wir gewinnen schließlich den Eindruck, als würde die Summe all der auf das Kunstwerk gerichteten Assoziationen nicht in dem Maße auf einen Bedeutungshorizont verweisen, wie das Kunstwerk selbst es vermag. Das Kunstwerk verdient seinen Namen zu Recht: kein StrandgutHand.<br>
Das Verfahren, mit dem wir unser Verstehen-Wollen von Kunstwerken vortragen, kann die beiden Typen von Assoziationsbildungen nicht in ihrer Struktur wiedergeben. Sie lassen sich dafür in den jeweiligen Sinnzusammenhängen ausmachen, und zwar in der Art und Weise, wie dort Sinn zusammenhängt und auseinander hervorgeht.
Weiter: Durch das Verknüpfen der einzelnen Bilder, denen mit den Texten und den Ge-neralthemen Entsprechungen an die Seite gestellt werden, wird unausgesprochen Sinn konstituiert. Die Mehrdeutigkeit, die in allen am Darstellungsprozess beteiligten Ele-menten angelegt ist, wird dadurch ausgerichtet, dass die zusammengehörigen Elemente in ein Überschneidungsfeld hineinmanövriert werden. Der Erkenntnisvorgang orientiert sich an eben dieser Schnittmenge.
Sie markiert den jeweiligen Sinnzusammenhang, er muss von jedem Betrachter aufs Neue aktualisiert werden.
STROMAUFWÄRTS. Es wäre durch weitere Versuche zu überprüfen, ob die von uns getroffene Unterschei-dung von zwei grundsätzlich verschiedenen Assoziationsabläufen verbindlichen Charak-ter gewinnen kann. Von hier aus wäre dann in die Struktur der Kunstwerke einzudrin-gen, wobei sich herausstellen könnte, dass zwischen ihr und dem, was die Assoziations-bildung und den jeweils damit verbundenen Prozess provoziert, ein unmittelbarer Zu-sammenhang besteht.Wenn wir fortgesetzt unseren Anspruch an die Kunst vortragen, mit ihrer Hilfe auf der Ebene der bildhaften, umgangssprachlichen Assoziationsbildung Sinnzusammenhänge zu erfahren und von ihr verlangen, dass sie aus sich heraus das jeweilige Unternehmen sinnvoll begrenzen kann - damit die Geschichte nicht uferlos weitergeht -, so sollten wir in absehbarer Zeit durchaus in der Lage sein, sie in ihren einzelnen Erscheinungsformen begründet beurteilen zu können. Wir sollten dann in der Lage sein, einzelnen Kunstwer-ken diese Fähigkeiten zu- oder absprechen zu können.Das würde bedeuten, dass wir, im Verfolg unserer Interessen, von guten und schlechtenKunstwerken sprechen könnten. Tja. Und dann nähme vielleicht das Publikum tatsächlich mal die Kunst in die Hand.März 1974<br>
März 1974Juni 1977 Achim Lipp<br>