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Die Kunst in Bildern zu denken

2 bytes added, 14:21, 11 December 2019
WISSEN IST MACHT?
Wir haben dieses Buch in einer Situation geschrieben, die im gegenwärtigen Leben beispielhaft ist: wir werden täglich und rund um die Uhr mit einer bedeutungsvollen Flut von Neuigkeiten, Wichtigkeiten, Belanglosigkeiten und Falschmeldungen überschwemmt, von nah und fern, aus allen Ecken der Welt und vom Nachbarn von nebenan.<br>
 
Diese Flut, die auf uns zurollt, kann von uns weder aufgehalten, gebremst noch gebrochen werden. Sie rollt über uns hinweg. Wir rappeln uns auf und fragen uns kaum einmal: was war denn das da eben? . . . und schon geht es wieder von vorn los, da kommt die nächste Welle. <br>
Das Grundübel: <br>
Erstens: Wir sind in bestimmter Hinsicht Analphabeten, d.h. wir ahnen, dass da etwas gemeint ist, können aber nicht herausbekommen, was es bedeuten soll.<br>
 
Zum anderen gibt es Nachrichten, deren Alphabet wir von A bis Z, einschließlich der Grammatik, die die einzelnen Einheiten zu verbindlichen Informationen verknüpft, fließend beherrschen. Trotzdem gehen auch diese Informationen, die durchaus verständlich sind, spurlos an uns vorüber. Schlimmer noch:<br>
 
Mit dem Ausklang der Tagesschau-Melodie weiß schon kein Fernsehzuschauer mehr, was da während der letzten 15 Minuten in ihn via Auge, via Ohr hineingewandert ist. Er selbst wird die Vermutung haben, die Nachrichten - Bilder wie Worte - seien nicht in ihn hinein, sondern durch ihn hindurch marschiert. <br>
Was sollte er sich auch merken? <br>Wie denn? <br>Und im Hinblick worauf eigentlich? <br> 
Wir wissen viel über unsere Welt und wissen auch, wo man's nachschlagen kann. Aber wir unterscheiden kaum die Umstande, die uns jeweils in Kenntnis gesetzt haben: Wohl sind wir über Vieles informiert, haben aber nur das Wenigste selbst erfahren, am eigenen Leibe.<br>
 
Beobachtungen geben Aufschluss darüber, dass man sehr wohl die mangelhafte Ausstattung mit Wissen, das sich handlungsmäßig erschlossen hat und so am lebensgeschichtlichen Prozess sich festmachen lässt, bemerkt hat. Und es werden Versuche gemacht, diesem Mangel zu begegnen, am besten gleich so, indem man Kapital daraus schlägt.<br>
Man rufe sich z.B. nur einen Urlaubstrend ins Gedächtnis, der in den letzten Jahren geradezu erfunden werden musste und ein riesiger Erfolg für die Veranstalter wurde: An allen Straßenecken wird er angeboten, der Sporturlaub, der Abenteuerurlaub, der Urlaub, der Dinge verspricht, die es eigentlich schon gar nicht mehr gibt, die längst aus dem täglichen Leben ausgeschieden sind: Entdecken der Natur, Berühren einer Felsenkante, 30 kg Gepäck durch das Gebüsch schleppen, ein bisschen hungern, ein bisschen dursten, das Mittagsmahl selbst erlegen, Muskelkater und Schweißtropfen, ein bisschen echte Angst, das inszenierte Risiko. Alles unter der Devise "Mehr Erleben".<br>
 
Walter Benjamin beschrieb als einer der ersten eine "Armut der Erfahrung“ und versuchte, diese Armut in Beziehung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen zu bringen. Er hat darauf hingewiesen, dass es angesichts einer solchen Armut nicht darum gehen kann, den Mangel durch blinden Aktivismus einfach wettzumachen — etwa unter dem Motto: Hauptsache, es passiert was. Es geht nicht darum, das schlecht geschenkte Glas voll zu kippen, sondern herauszubekommen, wieso das Glas nur halb voll ist, das einem in die Hand gedrückt wurde.<br>
 
Wollen wir nicht blind durch die Weltgeschichte irren, so ist eine Voraussetzung zu erfüllen: Wir müssen uns die "Armut an Erfahrung“ vergegenwärtigen, müssen diesen Sachverhalt auf uns beziehen und aufs erste überhaupt akzeptieren. Nur wenn wir selbst uns diese Armut eingestehen und diesen Sachverhalt als Indiz für bestimmte Verhältnisse und Zustände unserer Welt begreifen, können wir die organisierte Aneignung unseres gesellschaftlichen Lebens auf der Ebene der Erfahrung versuchen.<br>
 
=== AUFRUF: ===